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21.08.10 / Polnische (Wasser-)Wirtschaft / Bilanz nach den Überschwemmungen in Niederschlesien – »Polityka« übt ätzende Selbstkritik

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 33-10 vom 21. August 2010

Polnische (Wasser-)Wirtschaft
Bilanz nach den Überschwemmungen in Niederschlesien – »Polityka« übt ätzende Selbstkritik

Nach den verheerenden Überschwemmungen im Mai und Juni an Oder und Weichsel traten im August vor allem in Niederschlesien die Flüsse schon wieder über die Ufer. Nach ersten Schuldzuweisungen an Nachbarländer hat in Polen eine Grundsatzdebatte über den Hochwasserschutz eingesetzt. Dabei sind ungewohnt selbstkritische Töne zu hören.

Als seien die verheerenden Unwetter, die seit Mitte Mai auf Polen niedergehen, nicht Plage genug, brach am Abend des 7. August im niederschlesischen Nieda (polnisch: Niedow) der Staudamm der Wittig, der zu diesem Zeitpunkt angeblich 30 Millionen Kubikmeter Wasser statt der normalen fünf Millionen enthielt. Diese Wassermassen ergossen sich mit einer sieben Meter hohen Flutwelle in die Neiße und richteten im deutschen und im polnischen Teil der Stadt Görlitz (Zgorzelec) und anderswo enorme Schäden an. Mindestens zwei Tote waren allein wegen dieses Dammbruchs zu beklagen.

Schon vorher waren Orte wie  Zittau, Reichenberg (Bogatynia) im heute polnischen Teil Sachsens und viele mehr von Fluten verwüstet worden. Der Dammbruch des Wittig-Stausees (in deutschen Medien meist „Witka-See“ oder „Niedow-Stausee“ genannt) vor 14 Tagen änderte alles, denn der Besitzer des Stausees, das Gruben- und Energieunternehmen Turow, hatte auch nach dem Dammbruch keine Warnungen ausgegeben. Auch die polnische Regierung, vor allem Innenminister Jerzy Miller, schwieg hilflos, was ihr heftige Vorwürfe polnischer Behörden und Medien einbrachte. Lügt die Regierung oder ist Innenminister Jerzy nur unfähig, lautete eine von der Presse viel debattierte Frage.

Polnische Hochwasserchroniken gehen bis zum Jahr 988 zurück und aus so langer Erfahrung formte sich eine Faustregel: „Mittelgroße“ Überschwemmungen gibt es alle vier Jahre, große alle 20 und Katastrophen einmal pro Jahrhundert. Im 20. Jahrhundert galt dieser Rhythmus nicht mehr, wie 1979 der „Atlas der Entstehung typischer Überschwemmungs-Wetterlagen“ verriet: Nahezu jährlich gab es mittlere oder größere Fluten, dazu sechs schwere Katastrophen. Die schlimmste geschah 1997: 54 Todesopfer, zerstört oder beschädigt wurden 680000 Wohnungen, 4000 Brücken, 14 Kilometer Straßen und 9000 Betriebe. Die Schadensbilanz 2010 steht noch aus, doch zweifelt niemand daran, dass sie noch höher als die von 1997 sein wird, wobei die Überschwemmung vom Mai/Juni schlimmer als die aktuelle war.

Flutkatastrophen an Oder und Neiße ziehen immer auch Deutsche in Mitleidenschaft, aber in diesem Jahr blieb das deutsch-polnische Abkommen über gegenseitige Katastrophenhilfe von 1998 ein wertloses Stück Papier. Bundesinnenminister Thomas de Maizière sowie Politiker aus Sachsen und Brandenburg äußerten milde Kritik, mahnten für die Zukunft bessere Kooperation an und schickten Nothelfer nach Polen. Darüber verlautete in Polen kaum ein Wort, desto eifriger wurden antideutsche Verdächtigungen ausgestreut: Deutsche (und Tschechen) sollten Wiedergutmachung an Polen zahlen, weil sie die Überschwemmungen von 1997 und 2002 ausgelöst hätten. Die Deutschen säßen aber bereits an Schadensersatzklagen gegen Polen, „und der polnische Steuerzahler wird sie bezahlen“. (Das bezog sich auf die Strafanzeige der Stadtverwaltung von Görlitz gegen Unbekannt, die aber in erster Linie die Verantwortlichkeiten klären soll.) Schon jetzt, so eine weitere Tatarenmeldung, nutzten „deutsche Reisebüros aggressiv die polnische Notlage aus“, um Polen westliche Touristen abspenstig zu machen. Alles Unsinn, sagt der Historiker Antoni Dudek. Das sei die übliche polnische Suche nach Schuldigen, mit der man von eigenen Versäumnissen ablenken will.

Noch erhellender fing es die angesehene „Polityka“ an: Sie bat ihre Leser zur Aussprache: „Was hat uns die Überschwemmung über Polen und die Polen verraten?“ Heraus kam ein verblüffend selbstkritisches Bild: Polen bauten ihre Häuser, wie vor Jahrtausenden ägyptische Nil-Bauern, mit Vorliebe in hochwassergefährdeten Regionen, und keine Behörde stoppe sie, so dass es sieben Millionen potenzielle Flutwasseropfer geben werde. Polen, so eine Selbsteinschätzung, möchten keine lokale Selbstverwaltung, seien also selber schuld, wenn Zentralbehörden sie in Notsituationen sitzen ließen. Und polnische Schutzdeiche seien ökologisch wie ökonomisch sinnlos.

Auf ein Paradoxon verwies Stefan Bratkowski, Nestor der intellektuellen Dissidentenszene der 1970er Jahre: Die periodischen Überschwemmungen verwiesen auf die Misere der polnischen Wasserwirtschaft, der „zweitschlechtesten in Europa“. Wassergesetze fehlten, Flussläufe, Staudämme, Wasserkraftwerke, Wasserstraßen und Bewässerungssysteme seien völlig morbide, selbst sinnvolle Maßnahmen wie Umsiedlungen aus Risikogebieten unterblieben. Das von Flussläufen in jeder Richtung „verwöhnte“ Polen habe sich nie ein Beispiel an Deutschland genommen, wo man die meist von Süd nach Nord fließenden Flüsse durch Tausende Kilometer Kanäle verbunden habe, dadurch Hochwasser kontrolliere und eine kostengünstige Binnenschifffahrt bekommen habe. Wo es aber in Polen Flussregulierungen gebe, etwa an der Oder, stammten diese noch aus alten deutschen Zeiten − und verfielen. Im polnischen Musterländle Oppeln (Oberschlesien) etwa lägen alljährlich weite Felder unter Wasser, weil seit 40 Jahren Entwässerungsgräben verrotteten.

Noch im März stand Polens Ökonomie gut da: Wirtschaftswachstum 3,5 Prozent, Inflation 2,3 Prozent, Arbeitslosigkeit unter 13 Prozent. Dann waren im Süden und Westen Regionen überschwemmt, die zusammen 35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) erzeugen. Angst kam auf, die Brüssels oberster Finanzplaner, der Pole Janusz Lewandowski, aber beschwichtigte: Wenn Schäden 0,6 Prozent des BIP übersteigen, was im Falle Polens 2,1 Milliarden Euro gleichkäme, tritt der EU-Solidaritätsfonds in Aktion, aus dem Polen sofort 100 Millionen Euro bekommen könnte. Nützen wird das aber voraussichtlich wenig, da Polen auch frühere Hochwasserschutzhilfen der EU von 600 Millionen Europa nicht abrief, weil geplante Investitionsvorhaben noch nicht begonnen wurden. Die Polen haben aus der Oderflut von 1997 wenig gelernt und gegenwärtige Kritiker zitieren nun gern, was der altpolnische Poet Jan Kochanowski schon vor 500 Jahren rügte: „Polak glupi po szkodzie“, zu Deutsch: Durch Schaden bleibt der Pole dumm.             Wolf Oschlies


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