24.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
21.08.10 / »Es gibt 50 Wege zur Hochschulreife« / Lehrerverbands-Chef Josef Kraus im Interview: Verlängerung der Grundschulzeit ist »völlig irrational«

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 33-10 vom 21. August 2010

»Es gibt 50 Wege zur Hochschulreife«
Lehrerverbands-Chef Josef Kraus im Interview: Verlängerung der Grundschulzeit ist »völlig irrational«

Josef Kraus ist Direktor am Maximilian-von-Montgelas-Gymnasium in Vilsbiburg bei Landshut und seit 1987 Präsident des Deutschen Lehrerverbandes. Im Interview mit Rebecca Bellano nimmt er zu aktuellen Fragen der deutschen Schul- und Bildungspolitik Stellung.

PAZ: In vielen Bundesländern scheint man überzeugt, dass längeres gemeinsames Lernen oder auch jahrgangsübergreifender Unterricht besser für die Kinder wäre. Welche Erfahrungen hat der Deutsche Lehrerverband hierzu gemacht?

Josef Kraus: Was den Zeitpunkt der Differenzierung der Kinder nach verschiedenen Schulformen betrifft, so sagen alle Erfahrungen und alle namhaften Studien eindeutig aus: Sechsjährige Grundschule bringt nichts. Deutsche Länder mit einer längeren gemeinsamen Schulzeit wie Berlin und Brandenburg mit einer sechsjährigen Grundschule gehören zu den Pisa-Verlierern. Der Lern- rückstand von Grundschülern in Berlin nach der 6. Klasse gegenüber Schülern, die grundständige weiterführende Schulen besuchen konnten, beträgt bis zu einem Lernjahr. Untersuchungen von Prof. Kurt Heller (München), Prof. Peter Roeder (Berlin) und Prof. Rainer Lehmann (Berlin) haben das eindrucksvoll bewiesen. Selbst der Lehmann-Kritiker Prof. Jürgen Baumert räumte öffentlich ein: „Es gibt keine belastbare Studie, die bestätigen könne, dass ein längeres gemeinsames Lernen sinnvoll sei.“ Ansonsten muss man klipp und klar feststellen: Die Schule mit dem Anspruch, am längsten gemeinsames Lernen zu praktizieren, die Gesamtschule nämlich, hat in Deutschland trotz luxuriöser Personal- und Sachausstattung eine Geschichte durchschlagender Erfolglosigkeit hinter sich. Was eine rot-grüne NRW-Regierung ohne parlamentarische Mehrheit vor diesem Hintergrund derzeit betreibt, ist völlig irrational. In Hamburg gab es gegen eine solche Politik, die dort auch von der CDU mit inszeniert wurde, nun endlich eine erfolgreiche bürgerliche Revolte.

PAZ: Es heißt immer, das deutsche Bildungswesen würde Kinder aus der Unter- und Mittelschicht benachteiligen. Gleichzeitig machen aber je nach Bundesland bis zu 40 Prozent eines Jahrganges Abitur. Die können wohl kaum alle aus Akademikerfamilien stammen?

Kraus: Leute, denen es offenbar um (gefühlte) „Bildungsgerechtigkeit“ geht, haben zum Großteil nur eines im Sinn: ein gleichmacherisches Bildungswesen. Für dieses Ziel ist man sich nicht zu schade, sich einer längst überholt geglaubten Rhetorik des Klassenkampfes zu befleißigen: Das gegliederte deutsche Schulwesen diene dem Zweck, eine ständische Gesellschaft zu erhalten; die „obere Dienstklasse“ habe Angst vor einer nivellierenden Masse und lege deshalb Wert auf Exklusivität. Gegen diese Horrordiagnosen stehen Fakten: Erstens gab es in Deutschland in den vergangenen vier Jahrzehnten durch zahlreiche Schul- und Hochschulgründungen vielerlei positive Effekte, die gerade bildungsfernen Schichten zugute kamen. Man nehme allein den Hochschulzugang. Es gibt heute in Deutschland rund 50 verschiedene Wege zu einer Hochschulreife. Zweitens: Es war das gegliederte Schulwesen, das die Abiturientenquote in Deutschland binnen 40 Jahren verfünffacht hat. Hätten nur Akademikereltern Akademikerkinder reproduziert, dann hätte es das nicht gegeben. Drittens: Der Anteil der Studienberechtigten, die zuvor kein Gymnasium besucht haben, ist immer größer geworden und hat in manchen Bundesländern die 50 Prozent überschritten. Nutznießer dieser Entwicklung sind vor allem Kinder aus sogenannten bildungsfernen Schichten. Und viertens: Die Behauptung, durch die Integrierte Gesamtschule könne ein sozialer Ausgleich stattfinden, ist falsch. Eine Langzeitstudie der Universitäten Zürich und Konstanz (Prof. Fend) hat 2008 nachgewiesen: Der Besuch einer Gesamtschule beziehungsweise einer integrierten (hessischen) Förderstufe schafft keineswegs bessere soziale Aufstiegsmöglichkeiten. Wer freilich stets das Argument der „Bildungsgerechtigkeit“ im Munde führt, übersieht oder ignoriert auch die leistungsfähigen und hochdifferenzierten Strukturen der beruflichen Bildung in Deutschland.

PAZ: Wird das deutsche Bildungssystem international unter Wert gehandelt?

Kraus: Dieses Schulwesen ist – allen Horrormeldungen der OECD zum Trotz – für Millionen junger Menschen Garant für Aufstieg und Beschäftigung. Der Mensch beginnt eben nicht erst mit dem Abitur. Im übrigen sind viele der OECD-Aussagen zur Akademikerquote und zur sozialen Durchlässigkeit eines Bildungswesens schlicht und einfach statistische Artefakte: Wenn in Finnland die Tochter eines Industriearbeiters Krankenschwester wird, dann gilt sie – weil mit einem Hochschulstempel ausgestattet – als Paradebeispiel für die soziale Durchlässigkeit des dortigen Bildungswesens. Wenn in Deutschland die Tochter eines Facharbeiters Krankenschwester wird, gilt sie als „schreckliches Beispiel“ für die mangelnde soziale Durchlässigkeit unseres Bildungswesens. Was soll dieses dümmliche Quoten-Wettrüsten also?

PAZ: Es gab eine Diskussion über IQ-Tests für Zuwanderer mit der Behauptung, dass 80 Prozent der Intelligenz genetisch vorgegeben sei. Trifft das zu und wenn ja, was bedeutet es für die Bildungsreformen der Länder?

Kraus: Ob nun 60 oder 80 Prozent: Ein erheblicher Anteil der Intelligenzausstattung eines Menschen ist genetisch bedingt. Jahrzehnte der Zwillingsforschung haben dies immer wieder bestätigt, auch wenn die Ergebnisse dieser Studien als politisch inkorrekt verdrängt werden. Mit dieser Feststellung will ich keinem Bildungspessimismus das Wort reden, denn ob ein Mensch seine Intelligenzausstattung nutzt oder nicht, ist eine Sache seiner freien Entscheidung. Von einem Intelligenztest halte ich allerdings nicht viel. Die meisten dieser Tests sind sprachgebunden. Die Aussagekraft von sprach- und kulturunabhängigen IQ-Tests dagegen ist sehr begrenzt. Allerdings halte ich einen anspruchsvollen Sprachtest für sinnvoll. Das Beherrschen der Landessprache des Ziellandes von Migranten ist schließlich das A und O der Integration. Mangelnde Sprachkenntnisse provozieren das Entstehen von Parallelgesellschaften. Gegen diesen Grundsatz hat eine reichlich romantisierende deutsche Migrationspolitik jahrzehntelang verstoßen. Insofern ist es kein Wunder, dass besonders Kinder von Migranten aus der Türkei, aus arabischen Ländern und aus Ex-Jugoslawien bei Tests schlecht abschneiden und häufig ohne Schul- und Berufsabschluss bleiben. Deutschland hätte hier längst von anderen Zuwanderungsländern lernen sollen. Kanada, Australien oder Neuseeland etwa nehmen – außer aus humanitären Gründen – nur Migranten auf, deren Qualifikation sie brauchen können und die die Landessprache solide beherrschen.

PAZ: Früher galt das Abitur als etwas Besonderes. Wer eine 1 vor dem Komma hatte, stach hervor. In diesem Jahr haben aber beispielsweise an einem Hamburger Gymnasium von 123 Schülern 49 eine 1 vor dem Komma. Wie bewerten Sie diese Entwick-lung?

Kraus: Ich gönne jungen Leuten gute und sehr gute Zeugnisse. Wenn aber – wie hier – 40 Prozent eines Abiturjahrgangs eine 1 vor dem Komma haben, beschleichen mich doch Zweifel, ob hier nicht Studierberechtigung und Studierbefähigung miteinander verwechselt werden. Zudem muss man bei diesem Hamburger Beispiel berücksichtigen, dass dieser gewaltige Anteil an Einser-Abiturienten ja auf einer ebenfalls schon überdimensionierten Quote an Übertritten ans Gymnasium aufbaut. Quantität und Qualität verhalten sich aber auch im Bereich Bildung oft reziprok. Eine Inflation an solchen Abschlusszertifikaten ist noch lange kein Beweis für Qualität. Leider beugen sich hier nach dem Vorbild der Politik auch viele Schulleute der Vollkaskomentalität einer Elternschaft. Eine solche Gefälligkeitspolitik in der Schule hilft aber niemandem weiter, selbst wenn sie sich an vielen Hochschulen fortsetzt. Spätestens wenn die mit besten Zeugnissen verwöhnten jungen Leute auf den Markt kommen, müssen sie schmerzlich erfahren, wie wenig ihre Noten wert sind.

PAZ: Gleichzeitig verlassen immer mehr Schüler ohne Abschluss die Schule? Sind die einen so viel dümmer und unwilliger als die anderen oder wie erklären Sie dieses Phänomen?

Kraus: Richtig ist, dass im Schnitt rund ein Zehntel der jungen Leute ohne Schulabschluss bleibt, als eingeschränkt ausbildungsreif beziehungsweise als eingeschränkt ausbildungswillig gelten muss und dementsprechend auf dem Lehrstellenmarkt kaum vermittelbar ist. Allerdings muss man hier regional differenzieren. In Ballungsgebieten, in Großstädten, vor allem auch in Regionen mit einem hohen Anteil sozial problematischer Bevölkerungsschichten ist der Anteil größer, in deutschen Ländern mit ausgesprochen differenzierten Schullandschaft und mit günstigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ist der Anteil geringer. Insgesamt aber spaltet sich die Szene: Die beiden Enden des Bildungsspektrums driften auseinander. Die genannten zehn Prozent freilich stellen ein Potential an sozialpolitischem Sprengstoff dar. Allerdings füge ich hinzu: Die Schule allein kann dieses Problem nicht lösen. Der Staat hat gewiss eine große Bringschuld, das heißt, er muss ein differenziertes und leistungsfähiges Bildungswesen vorhalten. Die Familien und die jungen Leute haben aber auch eine Holschuld. Will sagen: Man muss ihnen deutlich machen, dass sie eine Pflicht haben, sich zu bilden beziehungsweise die vorhandenen und übrigens fast immer kostenlosen Bildungsangebote zu nutzen. Konkret: Auch der Hartz-IV-Empfänger oder der türkische Vater kann – notfalls unter Ankündigung von Sanktionen des Sozialstaates – dafür sorgen, dass seine Kinder regelmäßig die Schule besuchen.


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabo bestellen Registrieren