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11.09.10 / Leere auf dem goldenen Boden / Demographie, falsche Politik und fehlende Ausbildungsreife haben einen Lehrlingsmangel bewirkt

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 36-10 vom 11. September 2010

Leere auf dem goldenen Boden
Demographie, falsche Politik und fehlende Ausbildungsreife haben einen Lehrlingsmangel bewirkt

Vor wenigen Jahren waren Ausbildungsplätze rar, Betriebe hatten die Qual der Wahl. Heute quält sie ein Lehrlingsmangel, nicht zuletzt verschuldet durch eine chaotische Bildungspolitik.

Je höher der besuchte Schulzweig, desto angesehener die persönliche Bildungsbiographie. Für die Politik gilt es als „Integrationserfolg“ für Arbeiterkinder und Migranten, wenn die Zahl der Gymnasiasten steigt – das Abitur als Eintrittskarte zum Erfolg. So stellt die Ausbildungsumfrage 2010 des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK) fest, dass im Jahr 2009 etwa 420000 Jugendliche ein Studium antraten. Drei Jahre zuvor waren es lediglich 350000: Die Studienanfängerquote derjenigen, die in Deutschland Abitur gemacht haben, stieg folglich auf 34 Prozent. Dabei gibt es aus demographischen Gründen immer weniger von ihnen. 2010 waren es 880000, 25000 weniger als im Vorjahr. In Zeiten also, wo das Abitur nicht Ziel einer besonderen Auslese darstellt, sondern zu jedermanns  „Grundrecht“ umfunktioniert wurde, ist ein Imageschaden der Hauptschule, des untersten Schulzweigs, beinahe zwangsläufig.

In der Tat gibt es sie nur noch in sechs Bundesländern, wobei man in den rot-grün regierten Ländern Bremen und Nordrhein-Westfalen über deren Abschaffung debattiert. Insbesondere in den Städten gilt die Hauptschule als „Restschule“ und Problemfall. Wer hier ist, scheint ausgeschlossen vom sozialen Aufstieg, die Bilder von „Rütli“ geistern noch in den Köpfen. Kein Wunder, dass der Besuch eines solchen Schulzweigs als bedauerlich gilt. Dabei zählen Haupt- neben Realschule zum Hauptrekrutierungsfeld von Ausbildungsberufen. Der Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH) kritisiert, dass politisch „allein der Akademisierung das Wort geredet“ werde. 

Branchen wie Industrie, Handel und Handwerk klagen über immer weniger Bewerber. 2009 blieben 50000 Azubi-Stellen unbesetzt. Dabei müssen handwerkliche Kleinbetriebe und Mittelständler nicht nur gegen die „großen Namen“ bestehen, die für Bewerber oftmals attraktiver scheinen. Im Berufsbildungsbericht 2010, im März herausgegeben vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), werden für dieses Jahr 20000 Lehrstellen weniger prognostiziert (minus 3,5 Prozent zum Vorjahr). Die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ berichtet unter Berufung auf eine Analyse der Bertelsmann-Stiftung, dass sich in den nächsten fünf Jahren die Lehrlingszielgruppe der 19- bis 24-Jährigen in den neuen Bundesländern halbieren wird. Spätestens im Jahr 2025 nähme auch Westdeutschland − mit Ausnahme einzelner Ballungsgebiete − eine ähnliche Entwicklung. Und siehe da: In Stuttgart sank die Anzahl der Bewerber bereits 2009 auf 5200. Fünf Jahre zuvor waren es noch 2000 mehr.

Not macht kreativ: Da es wenige mitteldeutsche Betriebe schaffen, westdeutsche Jugendliche anzulocken, greift man vermehrt auf Berufsumsteiger und Ältere zurück. Auch setzt man Hoffnungen in junge Polen und Tschechen und initiiert Anwerbeprogramme. In Cottbus beispielsweise bietet man Zuwanderern eine Ausbildungsplatzgarantie an. Voraussetzung ist die Teilnahme an einem Kurs für deutsche Sprache und Kultur. Manch einer wartet auf den 1. Mai 2011, wo die Freizügigkeit für Arbeitnehmer in der EU auch auf Osteuropa ausgeweitet wird. Aber die Nachfrage ist gering, da junge Leute auch jenseits der Grenzen gebraucht werden.

Da immer weniger Angebot auf immer weniger Nachfrage stößt, spürt der einzelne Jugendliche vorerst wenig von den Folgen der Entwicklung. Doch die Betriebe gehen hart ins Gericht: Neben der demographischen Misere seien es vor allem fehlende Qualifikation, die Betriebe zum Verzicht veranlassen. Laut DIHK beanstanden drei Viertel aller befragten Unternehmen „mangelnde Ausbildungsreife“ bei den Bewerbern. 54 Prozent stellten Defizite in der deutschen Sprache fest, die Hälfte in Mathematik. „Außerdem nehmen nach Aussage der Unternehmen Disziplin, Leistungsbereitschaft und Durchhaltevermögen der Schulabgänger ab“, wie Berit Heintz, Leiterin des Referats Bildungspolitik und Schule im DIHK, gegenüber der Preußischen Allgemeinen Zeitung bestätigt. Eine Langzeitstudie der BASF   hat ermittelt, dass ein Hauptschüler anno 2008 im rechnerischen Teil bei Einstellungstests durchschnittlich 47 Prozent der Fragen korrekt löst (Realschüler: 56,4 Prozent). Im Vergleich zu 1975 ist das ein Rückgang von 35 Prozent (Realschüler: 26 Prozent). In der Rechtschreibung wurde ein ähnlicher Niveauverlust festgestellt, was sich mit den Einschätzungen der Betriebe deckt.

Gewerkschaften und Arbeitsagentur mahnen dagegen, kompromissbereiter zu sein. Viele leer ausgegangenen Betriebe hätten ein schlechtes Marketing. Dabei organisieren mehr als die Hälfte von ihnen bereits Nachhilfe für ihre Azubis.

Zur Fachkräftesicherung bedarf es eben nicht nur Akademiker, sondern vor allem auch leistungsfähiger Haupt- und Realschulen, die ordentlich auf die Ausbildungswelt vorbereiten. „Auf der einen Seite gilt es, leistungsschwächere und benachteiligte Jugendliche fit zu machen für die duale Ausbildung. Auf der anderen Seite müssen auch leistungsstarke Jugendliche, etwa Abiturienten und gute Realschulabgänger verstärkt angesprochen werden“, resümiert ZDH-Generalsekretär  Holger Schwannecke im „Magazin für Soziales, Familie und Bildung“ der Bundesregierung.

Diese wiederum versucht, mit „Bildungslotsen“ an Hauptschulen einiges wieder gutzumachen. Im Juni verkündete Bundesbildungsministerin Annette Schavan (CDU), 1200 dieser hauptamtlichen Helfer zu entsenden. 1000 Mitarbeiter der Bundesagentur für Arbeit und 1000 ehrenamtliche „Senior-Experten“ sorgen für Ergänzung. In öffentlichen Vergabeverfahren bewerben sich Hauptschulen um die Betreuer, die den Nachwuchs ab der siebten Klasse bis ins erste Jahr der Ausbildung fördern und begleiten. Allein 2010 steckt das Bundesbildungsministerium 50 Millionen Euro in das Projekt. Carlo Clemens


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