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25.09.10 / Und überall war Osten

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 38-10 vom 25. September 2010

Und überall war Osten
von Jean-Paul Picaper

Die Giraffe war das erste, was ich von Berlin erblickte, als ich dort im Oktober 1959 als Stipendiat der Freien Universität ankam. Nach 51 Jahren hängt diese Tierfigur in Großformat noch am Gebäude gegenüber dem Bahnhofsausgang Zoologischer Garten. War Berlin denn ein Zoo, wunderte sich der ankommende französische Student. Dabei waren die Einwohner der ehemaligen Reichshauptstadt noch nicht wie Affen im Käfig hinter der Mauer eingesperrt. Aber Tiere gab es schon reichlich: Füchse und Hasen, Eichhörnchen, die einem im Charlottenburger Park frech am Hosenbein hochkletterten. Ganz normal, denn Berlin wurde als Stadt „auf dem Land“ beziehungsweise „im Wald“ gebaut. Dennoch tauchten wir damals auch in den westlichen Sektoren in Lysol- und Braunkohleduft ein, wenn der Wind der russischen Steppe über die Stadt wehte. Dieser Geruch ist in manchen Treppenhäusern der Karl-Marx-Allee/Frankfurter Allee, früher Stalinallee, als Fossil erhalten geblieben. Heute ist Berlin sonst die grünste Stadt Europas. Echt „öko“ dank der Abgasniedrigkeitszone und der Pflanzenvielfalt bis in den Stadtkern.

Vor August 1961 war Berlin ein großes, nach allen Seiten offenes Floß auf dem roten Sowjetozean. Es konnte jederzeit auseinanderbrechen. Es war auch die einzige Stadt der Welt, wo in allen Himmelsrichtungen Osten war. Ich erhielt aber Orientierungshilfe und verknallte mich gleich in diesen politischen Mikrokosmos. In einem knatternden Goggomobil fuhren mein Kommilitone und ich durch das Brandenburger Tor in den Sowjetsektor hinein und speisten dort mit im Westen illegal getauschtem DDR-Geld (1 zu 5 oder 6, statt 1 zu 1) in Ost-Berlins Vorzeigerestaurant „Ganymed“ zu Preisen wie in der Mensa. Es war unsere Art, der DDR-Wirtschaft zu schaden. Das Risiko war groß, aber es schmeckte.

Das Virus der Gelbsucht, medizinisch Hepatitis, bot mir kurz nach meiner Ankunft die Chance, die Frontstadt Berlin aus der Froschperspektive kennenzulernen. Unter dem Verdacht, Opfer des französischen Alkoholismus zu sein, wies mich der Studentenarzt ins Auguste-Viktoria-Krankenhaus ein, wo mich im Vorzimmer ein Schild mit den Worten: „Humor ist, wenn man trotzdem lacht“, empfing. Ich fand seitdem keine bessere Definition des Berliner Humors, dieser Mischung aus Fatalismus und Zynismus. Ich verbrachte sieben Wochen im Gemeinschaftsraum dieser Klinik mit waschechten Berliner Proletariern. Mein Bettnachbar links empfing seine Besucher mit den Worten „Die Erbschleicher kommen“. Ein anderer Betnachbar war mit unserem Essen nicht zufrieden. „Det schmeckt wie Laterne unten“, pflegte er zu sagen. Nach zirka 15 Tagen dort beherrschte ich einigermaßen den Berliner Dialekt. So wurde ich Berliner und beschloss, es lebenslänglich zu bleiben.


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