26.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
25.09.10 / Hitler, Stalin, Berija, Benesch, Gomulka und Co. / »Lexikon der Vertreibungen« bietet eine gute Übersicht − Idee der ethnisch »reinen« Nationalstaaten setzte sich um 1918 durch

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 38-10 vom 25. September 2010

Hitler, Stalin, Berija, Benesch, Gomulka und Co.
»Lexikon der Vertreibungen« bietet eine gute Übersicht − Idee der ethnisch »reinen« Nationalstaaten setzte sich um 1918 durch

„Zu Beginn des nationalen Zeitalters noch als unmenschlich abgetan, gehörten Aus- und Umsiedlungen am Ende des 19. Jahrhunderts bereits zum Instrumentarium der europäischen Politik.“ So schreibt der Tübinger Historiker Mathias Beer in seinem Beitrag im „Lexikon der Vertreibungen“. In der Tat: Kaum eine Zeit vor dem 20. Jahrhundert hat derart massenhaft Vertreibungen, Deportationen, Flucht sowie letztlich auch Tod und Ermordung gesehen.

Das gut 800 Seiten starke „Lexikon der Vertreibungen“ wurde mit Unterstützung staatlicher Stellen in Deutschland und Österreich von den Historikern Detlef Brandes (Düsseldorf), Holm Sundhausen (Berlin) und Stefan Troebst (Leipzig) in Verbindung mit Kristina Kaiserová aus Tschechien (Aussig) und Krysztof Ruchniewicz (Breslau) erarbeitet. Die rund 300 Beiträge wurden von 122 Autoren geschrieben, zwei Drittel von ihnen aus dem deutschsprachigen Raum, die meisten anderen aus Ost- und Südosteuropa. Das Ergebnis dieser jahrelangen Arbeit ist ein ebenso beeindruckender wie bedrückender Überblick über das, was sich die europäischen Nationen in Hass und Verblendung gegeneinander und auch untereinander angetan haben.

Die Texte sollen gleichermaßen Bestandsaufnahme als auch Quellen sein. Die Schlagworte sind, grob gesagt, in vier Kategorien unterteilt: Zum einen werden betroffene Völker und Nationalitäten genannt, was von Finnland und dem Baltikum wie selbstverständlich über Deutschland und Polen zum Balkan und zur Türkei (Armenier, Griechen) reicht. Zweitens werden die wichtigsten Protagonisten wie Hitler und Himmler, Stalin, Berija, aber auch Benesch, Gomulka oder Nansen (Nansenpass in den 20er Jahren!) vorgestellt, drittens einzelne Aktionen wie das Massaker von Aussig vom Juli 1945, der Brünner Todesmarsch oder Flucht und Vertreibung der ostpreußischen Bevölkerung ab Ende 1944 bis zur Ausweisung der letzten Königsberger 1948.

Die umfangreichste und wichtigste Gruppe der Schlagworte sind Grundbegriffe, die den Aspekt von Flucht und Vertreibung in denkbarer Breite ausleuchten. Das reicht von „Asyl“ und „Genozid“ bis zu „Heimatvertriebenen“, „Repatriierung“, „Souveränität“ und „Vertreibung“ selbst. Die Kriege auf dem Balkan vor 1914, der griechisch-türkische Krieg nach 1918 oder die beiden Weltkriege werden jeweils unter dem besonderen Aspekt von Deportation, Vertreibung, Haft und Terror aufgeführt. Das System der Vernichtungslager des NS-Re-

gimes ist ebenso ausführlich dokumentiert wie die massenhaften Deportationen innerhalb der Sowjetunion (zwischen 1920 und 1952 etwa zwölf Millionen Menschen), der Mord an den Armeniern 1915 und der brutale „Bevölkerungsaustausch“ zwischen Griechen und Türken 1923.

Der Gedanke, ethnisch „reine“ Nationalstaaten zu schaffen – das Wort „ethnische Säuberungen“ gehört heute zum international gebräuchlichen Wortschatz –, hatte sich nach 1918 immer stärker durchgesetzt. Ethnische Minderheiten galten oft als Feinde der Majorität im Staat und im Falle kriegerischer Konflikte als „Kollaborateure“ mit dem Feind. Das Abkommen von Lausanne von 1923 über den Bevölkerungsaustausch zwischen Griechen und Türken stellte gleichsam die Weichen; die Sowjetunion gegenüber ihren kleineren Nationalitäten und die Nationalsozialisten in ihrem Rassenwahn gegenüber den osteuropäischen Völkern hielten sich dann an keine völkerrechtlichen Regelungen mehr, sondern verfuhren bei Deportation, Vertreibung und Mord brutal nach eigenem Ermessen. 1945 schlug das Pendel furchtbar auf die Deutschen im Osten zurück. Es ist eine makabre Liste an Wörtern, die dafür gefunden wurden: Absiedlung, Entmischung, Entwirrung, gereinigte Nation, Verschleppung, Hinausführung, Umvolkung, Zwangsemigration – rundweg Ausdrücke, die in das „Wörterbuch des Unmenschen“ passen und nur schlecht den dahinter stehenden Terror verbergen.

In jüngster Zeit hat es vermehrt wichtige Darstellungen zu Flucht und Vertreibung gegeben. Dieses Lexikon dürfte für längere Zeit eine Summe der einschlägigen Forschungen darstellen. Wollte man kritteln, könnte man den etwas zu intensiven Gebrauch von Abkürzungen monieren, ferner dass die Charta der Vertriebenen nur en passant erwähnt wird, vor allem aber, dass jegliches Kartenwerk fehlt; das wäre gerade in den Beiträgen zum Balkan oder zur Kaukasusregion überaus hilfreich gewesen.             Dirk Klose

Detlef Brandes, Holm Sundhausen, Stefan Troebst (Hrsg.): „Lexikon der Vertreibungen – Deportation, Zwangsaussiedlung und ethnische Säuberung im Europa des 20. Jahrhunderts“, Böhlau Verlag, Wien, Köln, Weimar 2010, gebunden, 801 Seiten, 79 Euro


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabo bestellen Registrieren