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02.10.10 / Seele und Geist zugleich berührt / Ausstellungen in Nord und Süd widmen sich der Kunst des Expressionismus

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 39-10 vom 02. Oktober 2010

Seele und Geist zugleich berührt
Ausstellungen in Nord und Süd widmen sich der Kunst des Expressionismus

Verzerrte oder zersplitterte Formen in grellen, unnatürlichen Farben: Der einst von den Nazis als „entartete Kunst“ verteufelte Expressionismus ist den Deutschen wie keine andere Kunstrichtung der letzten 100 Jahre ans Herz gewachsen. In den nächsten Monaten wird er mit zahlreichen Ausstellungen gefeiert.

Volker Rattemeyer, der Direktor des Museum Wiesbaden, charakterisiert den Expressionismus so: „Als Reaktion auf die Zerrissenheit des Großstadtlebens und die damit einhergehende Anonymität, Fremdbestimmung und Vereinsamung des Individuums entwickelten expressionistische Künstler aller Sparten Widerstand gegen bloß naturalistische und der äußeren Erscheinung verpflichtete Darstellungsweisen. Sie machten sich auf die Suche nach einer Erweiterung des künstlerischen Ausdrucksvermögens. Wichtigste Pole der expressionistischen bildenden Kunst in Deutschland waren einerseits die 1905 in Dresden gegründete, später in Berlin ansässige Künstlervereinigung ,Die Brücke‘ und andererseits die Künstler im Umfeld des ,Blauen Reiter‘ (1911–1914)“, der seine Aktivitäten von München aus entfaltete.

An den von Franz Marc und Wassily Kandinsky initiierten Ausstellungen und dem Almanach des Blauen Reiters beteiligte sich August Macke, die Galionsfigur des rheinischen und westfälischen Expressionismus. Zu dessen bedeutendsten Vertretern gehören Christian Rohlfs, Wilhelm Morgner, Peter August Böck-stiegel und Hermann Stenner. Ihr Schaffen stellt die Kunsthalle Bielefeld vor, um auf die meist Übersehenen hinzuweisen und so das Bild der Avantgarde in Deutschland beträchtlich zu erweitern.

Die Ausstellungen zu den Brücke-Künstlern konzentrieren sich in Norddeutschland und Berlin. Zeichnungen, Druckgraphiken und Gemälde aus allen Schaffensphasen Ernst Ludwig Kirchners präsentiert die Hamburger Kunsthalle. Erich Heckel wird im Brücke Museum Berlin mit einer großen Retrospektive geehrt. Zu den 70 Gemälden aus allen Schaffensphasen gehören berühmte Werke wie „Rote Häuser“ (1908) und „Mühle“ (1909). Zudem werden Aquarelle und Gemälde Heckels in der Kunsthalle Emden gezeigt. Und Max Pechstein wird in der Kunsthalle zu Kiel mit einer spektakulären Retrospektive gefeiert, an der die Erben Alexander und Julia Pechstein mit ihren Leihgaben entscheidenden Anteil haben. Neben bekannten Meisterwerken aus führenden Museen der Welt werden zehn bislang der Öffentlichkeit unbekannte Gemälde ausgestellt, dazu neu entdeckte Grafiken und kunsthandwerkliche Schöpfungen.

Zum Verhältnis von Brücke-Künstlern und den Vertretern des Blauen Reiters erklärt Volker Rattemeyer: „Beide Strömungen haben unterschiedliche Wurzeln und unterschiedliche Auswirkungen. Verkürzt gesagt, lässt sich die Kunst der Brücke eher einer figurativen, die Kunst aus dem Umfeld des Blauen Reiters eher einer auf Abstraktion zielenden künstlerischen Haltung zuordnen.“

Ausstellungen in der Mitte und im Süden Deutschlands widmen sich dem Blauen Reiter. Franz Marc und Paul Klee lernten sich 1912 während der Vorbereitung der zweiten Ausstellung des Blauen Reiters kennen. Es entwickelte sich eine Freundschaft, die für beider Entwicklung von herausragender Bedeutung war. Das veranschaulicht eine Ausstellung in der Stiftung Moritzburg Halle, die zuvor im Franz-Marc-Museum in Kochel zu sehen war, mit illustrierten Briefen und Postkarten sowie mit Werken, die Marc und Klee einander verehrten.

„Das Geistige in der Kunst“ nannte Wassily Kandinsky seine 1912 veröffentlichte kunsttheoretische Schrift. In ihr führt er aus, dass die Farben eine direkte Auswirkung auf die Seele des Kunstbetrachters haben und überdies die Formen die Wirkung der Farben beeinflussen. Unter dem Titel „Das Geistige in der Kunst“ wird das Museum Wiesbaden eine Ausstellung zeigen. Ihr Ausgangspunkt ist der Sommeraufenthalt von Kandinsky und Münter sowie Jawlensky und Marianne von Werefkin 1908 in Murnau, während dem sie erste expressionistische Bilder hervorbrachten. Dann behandelt die Schau die Zeit des Blauen Reiters (1911–1914). Die Wirkung von dessen Vertretern auf die Malerei von Mark Rothko, Robert Motherwell und anderen Künstlern im Amerika der 1940er und 1950er Jahre wird abschließend veranschaulicht.

Dass an der Ausformung des Expressionismus Künstler aller Sparten beteiligt waren, wird eine Schau der Mathildenhöhe Darmstadt in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Filmmuseum Frankfurt zeigen. Kern der Ausstellung sind die Jahre 1918 bis 1921, in denen „Das Kabinett des Dr. Caligari“ und andere herausragende Filme des Expressionismus gedreht wurden. Veranschaulicht wird, dass die Filme von der bildenden Kunst und Literatur und dem Theater und Tanz des Expressionismus stark beeinflusst worden sind − und ihrerseits eine außerordentliche Wirkung auf andere Gattungen entfalteten.      Veit-Mario Thiede

„Westfälischer Expressionismus“, Kunsthalle Bielefeld, 31. Oktober 2010 bis 20. Februar 2011. Erich Heckel: „Retrospektive“, Brücke Museum, Berlin, bis 16. Januar 2011. Erich Heckel: „Vom Aquarell zum Gemälde“, Kunsthalle Emden, bis 9. Januar 2011. Ernst Ludwig Kirchner, Hamburger Kunsthalle, 7. Oktober 2010 bis 16. Januar 2011. Max Pechstein: „Retrospektive“, Kunsthalle zu Kiel, bis 10. Januar 2011. Paul Klee und Franz Marc: „Dialog in Bildern“, Stiftung Moritzburg, Halle, 24. Oktober 2010 bis 9. Januar 2011. „Das Geistige in der Kunst: Vom Blauen Reiter zum Abstrakten Expressionismus“, Museum Wiesbaden, 31. Oktober 2010 bis 27. Februar 2011. „Gesamtkunstwerk Expressionismus“, Mathildenhöhe Darmstadt, 24. Oktober 2010 bis 13. Februar 2011.


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