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09.10.10 / Streit um einen faszinierend hässlichen Koloss / Dem »Tacheles« im Zentrum Berlins soll es an den Kragen gehen: Bewohner drohen mit eigener Wahlliste für 2011

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 40-10 vom 09. Oktober 2010

Streit um einen faszinierend hässlichen Koloss
Dem »Tacheles« im Zentrum Berlins soll es an den Kragen gehen: Bewohner drohen mit eigener Wahlliste für 2011

Das gewaltige, in rohe Steinquader gefasste, über und über bemalte und beschmierte „Kunsthaus Tacheles“ an der Oranienburger Straße, Ecke Friedrichstraße, in Berlin-Mitte nimmt sich unter den hochmodernen Glasbauten ringsum wie ein steinerner Dinosaurier aus. Das etwa 80 Meter lange und 30 Meter hohe Ungetüm, das erstaunlicherweise bis jetzt der Bauwut von Investoren getrotzt hat. nimmt mit Hinterhof und Garten 25000 Quadratmeter in bester Innenstadtlage ein.

Aber nun scheint es – wieder einmal – ernst zu werden: Eine Investorengruppe um die krisengeschüttelte HSH Nordbank hat den festen Willen, das Tacheles aufzulösen und möglicherweise ganz abzureißen, um an der belebten Oranienburger Straße, mit dem vielbesuchten Friedrichstadtpalast im Rücken moderne Büros, Gastronomie und Luxuswohnungen anzusiedeln.

Das „Kunsthaus“ ist längst Touristenattraktion. Jährlich kommen annähernd 400000 Besucher, viele aus dem Ausland, um den faszinierend hässlichen Koloss zu bestaunen. Zwei Aufgänge rechts und links führen über fünf Stock­werke in etwa 30 Ateliers, in denen Künstler (Malerei, Fotografie, Design) arbeiten und ausstellen. Im Hof dahinter arbeitet eine Metallwerkstatt, der teilweise wild aussehende, kräftige Männer aus der Türkei, aus Ungarn, Italien, Frankreich, Schweden und Deutschland angehören. Ihre Werke: riesige zusammengelötete Tiere und Pflanzen, Käfer und Insekten mit Glubschaugen und überlangen Antennen aus Draht.

Und überall Losungen und Sprüche: „Die Kunst geht weiter auch ohne Reiter“, „Nazis sind Scheiße“, „dream is not illegal yet“ (an einem türkischen Atelier). Dennoch, das anarchische  Erscheinungsbild steht in krassem Gegensatz zum Auftritt der Künstler: die zierliche Japanerin mit Bildern aus Fernost, der kräftige türkische Metallkünstler, der mit schwerem Gerät eine überlebensgroße Figur zusammenschweißt, der sensible Fotograf mit bedrückenden Portraits von Gestrandeten inmitten der Metropole.

Überrascht ist der Besucher, wenn er hinter dem Werkhof auf einmal einen Garten entdeckt – ein blühendes Biotop inmitten der Steinwüste Berlins. Mit einem Eifer, der jedem Botanischen Garten zur Ehre gereicht, wurden an Pflanzen und Tümpeln genaueste Hinweise zu Pinselkäfer und Diestelfalter, zum Igelkolben, zur Großen Heidelibelle oder zur Blauen Federlibelle montiert.

Das Tacheles ist der Rest einer gewaltigen Einkaufspassage, die Friedrichstraße und Oranienburger Straße verband und im Krieg größtenteils zerstört wurde. Die Front zur Oranienburger blieb als Ruine stehen, mit der man zu DDR-Zeiten nichts anzufangen wusste. Bald nach der Revolution zogen zahlreiche Künstler in das leere Gebäude mit seinen verlockend großen Räumen ein und machten es mit Cafés, Kino, Ausstellungsräumen und Konzertbühne nach und nach zum vielbesuchten Symbol der alternativen Kunstszene – natürlich ohne Miete zu zahlen.

Ein Investor, der Haus und Grundstück erworben hatte (und der vor Jahren auch das „Adlon“ in Berlin und das Großhotel in Heiligendamm finanziert hatte), ließ die Künstler lange gewähren. Inzwischen insolvent gab er das Gelände an die zur HSH Nordbank gehörende Fundus-Gruppe ab, die den Kaufpreis von 70 Millionen Euro möglichst rasch wieder mit Gewinn hereinholen will.

Mit Blick auf die bewegte Geschichte seit 1990, die von heftigem Für und Wider bis weit in die politische Öffentlichkeit gekennzeichnet war, schreibt die das Haus (noch) verwaltende „Gruppe Tacheles“, ihr Domizil sei ein „Denkmal für den Ausnahmezustand“, an dem sich auch das Fehlen jeglicher „partizipativen städtebaulichen Strategie“ in Berlin zeige. Es sind fast flehentliche Rufe nach Solidarität. Dieser Tage drohte die Wasserabsperrung, ein Gerichtsvollzieher mit Räumungsklage war schon da, zog aber wegen Unstimmigkeiten bei der Adressierung wieder ab. Vom Senat hört man wohlwollende Worte, denen keine Taten folgen. Die Künstler überlegen nun, mit einer eigenen „Liste Tacheles“ zur Abgeordnetenhauswahl 2011 anzutreten; das würde die rot-rote Regierung mit Sicherheit einige Stimmen kosten.     Dirk Klose


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