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09.10.10 / Zeichen des Aufbruchs / Das estnische Reval (Tallinn) ist neben dem finnischen Turku die Europäische Kulturhauptstadt 2011

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 40-10 vom 09. Oktober 2010

Zeichen des Aufbruchs
Das estnische Reval (Tallinn) ist neben dem finnischen Turku die Europäische Kulturhauptstadt 2011

Estlands Hauptstadt hat viele Gesichter: Die vorbildlich restaurierte, komplett erhaltene Altstadt aus dem Mittelalter, ein Unesco-Welterbe, zieht mehr als eine Million Touristen an. Allein die Kreuzfahrtschiffe bringen jährlich an die 400000 Besucher ins historische Reval. Doch jenseits der Stadtmauer finden sich viele Spuren der untergegangenen Sowjetunion und manche Zeichen des Aufbruchs.

Der Geist der UdSSR beginnt hinter der Stadtmauer. An einem wuchtigen dunklen Holzschreibtisch sitzt unter einem großen Leninporträt ein schlacksiger Mann in Fleecepulli und Jeans. Taner Soosar blickt auf sein Werk. Eine alte Lagerhalle voller Realsozialismus. Zusammen mit zwei Freunden hat Tanel die Sowjet-union zurück nach Reval (Tallinn) geholt: Eine komplette Ladeneinrichtung, alte Militärfahrzeuge der Roten Armee und viele Skurrilitäten aus dem Alltag. „Dieses Auto hat ein Este 1968 selbst gebaut“, erklärt Taner lachend und klopft auf die Karosserie eines knallroten Sportflitzers: Fiberglas. Er hat sich eine Gussform aus Ton gefertigt und diese mit dem Kunststoff gefüllt. Innen: zwei Sitze, Lenkrad, Bremse, Armaturenbrett, Tacho, alles da. „Das Auto war offiziell angemeldet. Er ist damit in den Urlaub bis ans Schwarze Meer gefahren.“

Das Museum „Made in USSR“ zeigt den Alltag in der Sowjetunion, kein KGB, kein Gulag, kein Gruseln. Das ganz normale Leben hinter dem Eisernen Vorhang: Eine komplett eingerichtete Wohnung mit wackeliger Schrankwand aus dunkelbraun furniertem Pressspan, Küchengeräte, ein Radio, ein Schlauchboot zum Auseinanderbauen und ein Rasenmäher Marke Eigenbau: Ein Tüftler hat einen Motor auf ein altes Kinderwagengestell montiert, darunter ein paar Messer, die sich drehen. „Das funktioniert“, verspricht Taner, ebenso wie die selbstgebaute Motorsäge eines anderen estnischen Bastlers. Die sei sogar in die Serienproduktion übernommen worden. An viele Geschichten erinnert sich der 37-jährige Taner selbst noch genau: „Wenn wir eine Schlange vor einem Laden gesehen haben, haben wir uns angestellt. Erst nach dem Einkauf haben wir uns dann überlegt, was wir mit dem Erworbenen anfangen.“

Die Zeiten sind seit 20 Jahren vorbei. Auf dem Russischen Markt hinter dem Bahnhof gibt es alles. Aus Plastikkisten verkaufen die Markthändler Obst und Gemüse. An den verwitterten Fassaden alter Lagerhallen hängen bunte billige Klamotten, dazwischen Stände mit Flohmarkttrödel, mehr oder minder versteuerten Zigaretten aus ganz Europa. Hier wird verkauft, was Geld bringt. Ein junger Mann preist an einem Tapeziertisch auf Russisch seine mechanischen Wecker an. „Die sind aus Polen, gute Ware“, verspricht er. „Natürlich gehen sie genau.“ Der Preis: fast wie zu Sowjetzeiten, umgerechnet 1,50 Euro kostet der silbern glänzende Wecker im Retrostil mit zwei extra lauten Schellen oben drauf.

Solche Schnäppchen gibt es in der Innenstadt nicht mehr. Die Läden, Galerien, Cafés und Restaurants sind fast so teuer wie in Westeuropa. Der Staat spart. „Die Leistung des estnischen Wohlfahrtsstaats kommt disproportional den Wohlhabenden zugute“, kritisiert die internationale Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit OECD. Estland gibt nur etwa 12,5 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für Sozialleistungen aus. Im europäischen Durchschnitt sind es 27 Prozent. Dafür hat Estland die niedrigsten Staatsschulden in der EU. 2011 kommt der Euro. Die Kehrseite des Wirtschaftswunders: Die Arbeitslosenquote ist auf mehr als 15 Prozent gestiegen. Mit einem Budget von rund 50 Millionen Euro startet die estnische Hauptstadt Reval mit knapp 500000 Einwohnern  ins Europäische Kulturhauptstadtjahr 2011. Auf dem Programm stehen mehr als 200 Veranstaltungen. Unter dem Motto „Geschichten von der Meeresküste“ erzählt die Kulturhauptstadt 2011 (neben dem finnischen Turku) in darstellender und bildender Kunst von der Beziehung der Stadt und ihrer Bewohner zum Meer. Lesungen, Ausstellungen, Performances, Theateraufführungen und viele weitere Veranstaltungen gibt es überall in der Stadt, manche sogar in den Straßenbahnen. Originell ist das Internationale Theaterfestival und das Strohtheater aus 9000 Strohballen der Gruppe NO99. Weltpremiere feiert der estnische Komponist Arvo Pärt. Er führt sein Werk „Aadama itk“ zu seinem  75. Geburtstag erstmals auf. „Schwarzmarkt für nützliches Wissen und Nicht-Wissen“ ist das Motto einer ungewöhnlichen Zusammenkunft: Bis zu 120 internationale Sachverständige und etwa 1000 Besucher kommen für sechs Stunden zusammen. In dieser Zeit hat jeder der Besucher eine halbe Stunde Zeit, sich mit einem der Experten über ein bestimmtes Thema auszutauschen. Auf dem „Friedhof der toten Sprachen“ wird es Audioinstallationen geben, ein Krematorium für Worte und weiteres, was an den Verlust der Sprachenvielfalt erinnern soll.

Unter dem Motto „Geschichten erzählen rettet die Welt“ treffen sich Erzähler aus Estland und der ganzen Welt vom 21. März bis 30. November 2011 in Reval mit Geschichten zum Thema Meer. Auf dem Sängerfestplatz, wo 1989 die „singende Revolution“ begann, treffen sich Sängerinnen und Sänger zum größten Chor- und Gesangfestival Nordeuropas (1. bis 3. Juli 2011).

Die komplett erhaltene mittelalterliche Altstadt Revals, fast vollständig umschlossen mit einer mächtigen Stadtmauer, gliedert sich in die Oberstadt (Domberg) und die Unterstadt mit dem zentralen Rathausplatz. Während die Oberstadt sehr ruhig ist, wimmelt es in der quirligen Unterstadt mit ihren vielen Cafés, Läden und Restaurants von Touristen. Junge Architekten haben das ehemalige Industriegebiet Roter-manni mit seinen back- und bruchsteinernen Fabrik- und Lagerhäusern zu einem modernen Büro-, Wohn- und Ausgehviertel umgestaltet. Spannend sind die Gegensätze zwischen der Industriearchitektur des 19. Jahrhunderts und hypermoderner skandinavischer Architektur aus Glas, Eisen und Stahl.    

Robert B. Fishman


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