20.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
16.10.10 / Moderne Erkenntnisse vorweggenommen / Ein psychologischer Roman von Karl Philipp Moritz schildert die schwierige Kindheit und Jugend eines Hochbegabten

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 41-10 vom 16. Oktober 2010

Moderne Erkenntnisse vorweggenommen
Ein psychologischer Roman von Karl Philipp Moritz schildert die schwierige Kindheit und Jugend eines Hochbegabten

Bis heute ungebrochen ist die Faszination, die der Kindheits- und Jugendroman „Anton Reiser“ von Karl Philip Moritz (1756–1794) durchweg auf seine Leser ausübt, was man nur von einer äußerst kleinen Zahl von Literaturerzeugnissen seiner Zeit wird behaupten können. Und doch ist dieser Schlüsseltext der deutschen Aufklärung vergleichsweise wenig bekannt. 1785, vor 225 Jahren, veröffentlichte Moritz den ersten von insgesamt vier Teilen des „Anton Reiser“ und wählte dafür den Untertitel „Ein psychologischer Roman“. In seinem Vorwort stellte er klar, dass es sich um eine Art Biographie handelt.

Zwei Fragmente von Teil eins hatte der Publizist, Sprachforscher und Kunsttheoretiker Karl Philipp Moritz bereits in dem von ihm herausgegebenen „Magazin zur Erfahrungsseelenkunde“ veröffentlicht. Er vertrat darin den Anspruch, anhand von Fallbeispielen die vielfachen Ursachen und Wirkungen menschlichen Handelns und individueller Persönlichkeitsentwicklung darzulegen. Tatsächlich nahm er so manche Erkenntnis der modernen Psychologie vorweg. Aufgrund des Erfolgs von Teil eins des „Anton Reiser“ brachte der Verlag Friedrich Maurer noch zur Ostermesse 1786 als Fortsetzungen Teil zwei und drei heraus. Teil vier wurde erst nach Moritz’ Rückkehr aus Italien niedergeschrieben und 1790 veröffentlicht. Seit 2006 liegt eine kritische und kommentierte Ausgabe des „Anton Reiser“ in zwei Bänden vor. Sie entstand im Rahmen der auf 13 Bände angelegten Karl-Philipp-Moritz-Ausgabe der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Da der Nachlass des Autors bislang verschollen ist, galt es als Sensation, dass der Herausgeber Christoph Wingertszahn auf bislang unbekannte Briefe stieß, die belegen, dass der junge Karl Philipp Moritz, wie im Roman Anton Reiser, tatsächlich 1769/70 von dem bigotten Braunschweiger Hutmacher Lobenstein drangsaliert wurde, derart, dass der 13-Jährige einen Selbstmordversuch unternahm.

Es war seine Italienreise, die Moritz den ersehnten beruflichen und gesellschaftlichen Aufstieg brachte. Hatte er als lesewütiger Primaner in Hannover davon geträumt, dem angebeteten Dichter des „Werther“ nahe zu sein, und sei es nur als Diener, so traf er 1786 Goethe tatsächlich in Rom und freundete sich mit ihm an. Als Goethe sich den Arm brach, pflegte und versorgte er ihn. Goethe an Frau von Stein: „Moritz ist wie ein jüngerer Bruder von mir, von derselben Art, nur da vom Schicksal verwahrlost und beschädigt, wo ich begünstigt und vorgezogen bin.“ Auch in Hinsicht auf seine Arbeit an der „Iphigenie“ profitierte Goethe von dieser Bekanntschaft: Moritz hatte sich zuvor in seiner Schrift „Versuch einer deutschen Prosodie“ intensiv mit den Charakteristika der deutschen Sprache beschäftigt. Ende 1788 legte er auf seiner

Rückreise nach Berlin, wo er als Pädagoge tätig war, einen Aufenthalt in Weimar ein und erhielt durch Goethes Vermittlung die Gelegenheit, Großherzog Carl August im Englischen zu unterrichten. Dieser verschaffte ihm anschließend eine Professur an der Königlichen Akademie der Künste in Berlin. Zu Moritz’ Studenten zählte unter anderem Alexander von Humboldt. 1791 in die Akademie der Wissenschaften aufgenommen, erhielt er den Titel eines preußischen Hofrats. 1793 starb Karl Philipp Moritz mit nur 37 Jahren an der Schwindsucht.

Ihm war die Seelenerforschung gleichsam in die Wiege gelegt worden. In Hameln wuchs er in ärmlichen Verhältnissen auf. Seine Eltern scheinen ihn wenig geliebt zu haben. Sein Vater, ein Militärmusiker, der einer Sekte angehörte, verlangte von dem Jungen, „seelische Abtötung“ und dergleichen zu praktizieren. Die überforderte und zur Hysterie neigende Mutter ging ebenfalls nicht auf die Bedürfnisse ihres Sohnes ein. Folglich leidet die Romanfigur an Selbstzweifeln. Mit fantastischen Vorstellungen versucht er, seiner Traurigkeit Herr zu werden.

Früh schon liest er alles, wessen er habhaft werden kann. Mit Augenmaß, durchweg ohne Bitterkeit und Beschuldigungen, interpretiert und kommentiert der Autor äußerst sparsam den Werdegang seines Protagonisten. Nach der abgebrochenen Braunschweiger Lehre wird Anton von seinem Vater geschnitten, der ihn als unnützen Esser loswerden möchte. Durch einen glücklichen Zufall – eine Standesperson fördert ihn finanziell – erhält er nach seiner Konfirmation die Möglichkeit, in Hannover das Gymnasium zu besuchen. Endlich wird sein Bildungshunger gestillt, und er erfährt Anerkennung: „Seitdem Anton nun die Verse deklamiert hatte, wurde er fast von allen seinen Mitschülern geachtet. Das war ihm ganz etwas Ungewohntes – er hatte in seinem Leben so etwas noch nicht erfahren –, ja er glaubte kaum, dass es möglich sei, dass man ihn noch achten könne.“ Die Erzählungen vom schulischen Alltag und von den Umzügen der Chorsänger in der Stadt gehören zu den Glanzlichtern des Buches.

Doch es erwarten den überempfindlichen, wegen seiner Armut beschämten Anton neue Kümmernisse, da er in einigen Häusern, in denen er einen Freitisch erhält, gegängelt wird. Am Ende besucht er die Schule nur noch selten, bis er schließlich, wie der später als Schauspieler berühmt gewordene August Wilhelm Iffland, die Stadt ohne Ankündigung verlässt. Zu Fuß reist er einer wandernden Truppe hinterher, um sein Heil auf der Bühne zu finden. Doch sein Vorhaben, Schauspieler zu werden, misslingt: In Leipzig hatte sich die Truppe aufgelöst.  Dagmar Jestrzemski


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabo bestellen Registrieren