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23.10.10 / Sturm auf den Élysée-Palast / Die linke Opposition und kommunistische Gewerkschaften versuchen Frankreich zu übernehmen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 42-10 vom 23. Oktober 2010

Sturm auf den Élysée-Palast
Die linke Opposition und kommunistische Gewerkschaften versuchen Frankreich zu übernehmen

Die Kraftprobe zwischen der Regierung von Nicolas Sarkozy und den Linken wird fortgesetzt. Vordergründig gehen die Menschen in Frankreich zwar gegen die Rente mit 62 auf die Straße, doch den Organisatoren der Massenveranstaltungen geht es um die Macht im Land.

Driftet Frankreich schon zu einer „anderen Republik“ ab? Wird die französische Wirtschaft in den nächsten Wochen weiter durch Streiks lahmgelegt, so dass Frankreich, dessen Wirtschaftsentwick-lung EU-weit bereits eher mittelprächtig ist, die rote Laterne Europas übernimmt? Soll der Straßen- und Schienenverkehr lahmgelegt werden? Werden Exporte und Importe blockiert? Fällt der Unterricht in Gymnasien und Fakultäten für längere Zeit und in großem Ausmaß aus, so dass gar keine Diplome oder, wie schon einmal vor fünf Jahren, nur Ramsch-abschlüsse vergeben werden? Wird sich „die Straße“ gegen die gewählten, legitimen Staatseinrichtungen durchsetzen und das vom Parlament bereits verabschiedete Rentengesetz mit ihren demagogischen Forderungen ersetzen können? Wird Sarkozys Reformwerk der letzten drei Jahre zur Makulatur? Schaffen es die Demonstranten und Streikenden − man wäre fast versucht zu sagen „die Aufständischen“ − den Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy und seinen Premierminister Francois Fillon in die Knie zu zwingen?

Dieses Szenario ist nicht von der Hand zu weisen. Die Rentenreform, die den Anlass zu dieser – milde gesagt – „sozialen Bewegung“ schafft, ist nur ein Vorwand. Ob der gesetzliche Renteneintritt bis zum Jahr 2019 von 60 auf 62 Jahre verschoben wird, interessiert die Anführer des Aufstandes nur am Rande. Freilich, es wäre für sie eine halbe Blamage, hätte die Regierung noch Kraft genug, diese Zielvorgabe durchzusetzen, denn der sozialistische Staatspräsident Francois Mitterrand und sein Premier Pierre Mauroy hatten im Jahre 1982 das Rentenalter von 65 auf 60 Jahren als Geschenk an „das linke Volk“ heruntergeschraubt. Ganz im Gegensatz zu der landläufigen Berichterstattung in Deutschland über die französischen „Ereignisse“ geht es aber westlich des Rheins im Grunde genommen nicht um die Rentenreform, sondern um einen Machtkampf zwischen Regierung und linker Opposition. Wobei eine starke außerparlamentarische die kleinere gewählte Opposition der sozialistischen Partei PS dazu zwingt, weiter mitzumachen und vorzeitig die Staatsgeschicke in die Hand zu nehmen.

Die Hauptfigur dieser Politveranstaltung, der Vorsitzende der kommunistischen Gewerkschaft CGT, Bernard Thibault, hat es klipp und klar in einem Interview gesagt: „Unsere Bewegung hat Marathoncharakter … Wir werden nicht nachgeben … Unsere vielfältige Bewegung wird nicht mit der Verabschiedung des Rentengesetzes aufhören, da macht sich die Regierung etwas vor … Wir werden weiter demonstrieren, wilde Streiks, Arbeitsunterbrechungen, Versammlungen und Betriebsblockaden machen.“ Auch der hasserfüllte und aggressive Ton der Auseinandersetzung auf Seiten der Demonstranten verspricht nichts Gutes. Dabei sind die meisten Aktionen wie die Blockaden von Ölraffinerien und des wichtigen Hafens von Marseille, vor dem inzwischen eine Armada von Tankern auf hoher See vor Anker liegt, sowie die Blockaden von Fakultäten und Gymnasien illegal. So konnte die Regierung die Bereitschaftspolizei einsetzen und einige Betriebe und Schulen befreien.

Natürlich ist der Aufruf gegen die Verlängerung der Lebensarbeitszeit um zwei Jahre ein populäres Anliegen. Frankreich ist ohnehin der Staat in Europa – abgesehen von Spanien und Griechenland – mit den meisten Streiks und der kürzesten Arbeitszeit. In keinem anderen Staat der Welt wurde – wohlgemerkt von sozialistischen Regierungen – die Wochenarbeitszeit per Dekret auf 35 Stunden begrenzt und das Rentenalter herabgesetzt. Die Gewerkschaften vertreten in Frankreich nur sechs Prozent der Arbeitnehmer, daher ziehen sie es vor, auf der Straße für die Medien sichtbar zu werden, statt zu verhandeln.

Dabei wies Premierminister Fillon am letzten Sonntag im Fernsehen darauf hin, dass Verhandlungen mit den Gewerkschaften bei der Konzeption des Gesetzes durchaus stattgefunden haben. Seine Regierung habe deswegen die Schwere bestimmter Arbeiten im Gesetz berücksichtigt mit der Möglichkeit, bereits vor dem 62 Geburtstag die volle Rente zu bekommen. Auch der parlamentarische Weg ist ganz normal verlaufen und gab zu vielen Gesetzesänderungen durch die Opposition Anlass. Die Demokratie ist noch funktionsfähig. Aber die Radikalen haben im letzten Sommer eine Kehrtwende durchgesetzt.

Die ganze Linke ist der Regierungsmehrheit in den Rücken gefallen. Die Verliererin der Präsidialwahl 2007, Ségolène Royal, hat Anfang Oktober eine Vakanz ihrer Nebenbuhlerin in der PS, Martine Aubry, ausgenutzt, um einen Aufruf an die Jugend zu richten mit zu demonstrieren. Annähernd ein Drittel der Gymnasiasten geht jetzt auf die Straße, allen voran die Schülerinnen, die sich mit besonderer Phonstärke beim Schreien der Parolen auszeichnen. Ihr Grundargument: „Opa und Oma müssen früher auf das Altenteil geschoben werden, damit wir Arbeit bekommen.“ Bei einer Jugendarbeitslosigkeit von 23 Prozent zieht diese gänzlich unökonomische Aussage.

Kraftproben zwischen studierwilligen Studenten und Schülern und den Arbeitsunwilligen mehren sich derartig, dass die Polizei mancherorts eingreifen muss. Beobachtet vor einem großen Gymnasium in Bordeaux: Die „Studentenkoordinierung“ hatte bereits im Morgengrauen die beiden Schuleingänge mit Schranken und Mülleimern blockiert. Zirka 15 Demonstranten versperrten Hunderten von Lehrern und Schülern den Weg. Einer der lernwilligen Studenten, ein Hüne und Karatemeister, ging einfach durch. Drei Blockierer griffen den Blockadebrecher an. Er warf sie zu Boden. Eine Schlacht zwischen Lernwilligen und -unwilligen entwickelte sich dann. Ein Grund für den Rektor, die Polizei zu rufen, die die Blockade fast ohne Gewalt beendete. Gelernt wurde unter Polizeischutz. Die arbeitende und lernende Bevölkerung kommt aber in den Medien fast nicht zu Wort. Daher halten laut Umfragen über 70 Prozent der Franzosen eine Rentenreform für notwendig, aber ebenfalls 70 Prozent unterstützen die Demonstranten.      J.-P. Picaper


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