25.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
30.10.10 / Geliebter Feind / Ungewöhnliche Freundschaft

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 43-10 vom 30. Oktober 2010

Geliebter Feind
Ungewöhnliche Freundschaft

In der niederländischen Provinz der 1940er und 50er Jahre, in einer kühlen Atmosphäre religiöser Strenggläubigkeit wächst der Erzähler aus Maarten ’t Harts neuem Roman „Der Schneeflockenbaum“ auf. Erneut hat sich der Erfolgsautor in einer autobiographisch gefärbten Geschichte mit zentralen Themen des Lebens beschäftigt, mit dem Heranwachsen, mit Liebe, Religion und dem Wunder der klassischen Musik. Im Mittelpunkt steht die Freundschaft zweier Jungen, eine Freundschaft, die von der Kindergartenzeit bis ins Erwachsenenalter andauert und eine eigenartige Begleiterscheinung hat – mit fatalen Folgen für den erzählenden Romanhelden, der, auch das ist seltsam, nie bei seinem Namen gerufen wird.  

Christa, inzwischen 80 Jahre alt und zweifach verwitwet, hat ihre beiden Söhne gemäß ihrer calvinistischen Grundüberzeugung erzogen. Der Dialog zwischen ihr und dem Ich-Erzähler, ihrem älteren Sohn, bildet den Rahmen der Handlung. Immer hatte Christa Jouri, dem Freund ihres Sohnes, ablehnend gegenüber gestanden, da sie ihn für undurchsichtig hielt. Zudem hatte dessen Vater im Krieg mit den Nationalsozialisten kollaboriert. Doch es war Jouris Vater, Inhaber einer Fahrradwerkstatt, mit dem der Ich-Erzähler gemeinsam die Welt der klassischen Musik entdeckte. Später findet er sich sogar damit ab, dass Jouri sich stets nur für diejenigen Frauen interessiert, für die zuvor er selbst entflammt war.

In Leiden nimmt der Protagonist, der schon als kleiner Junge die Abwassergräben nach Egeln und anderem Getier abgesucht hatte, das Studium der Biologie auf. Bezeichnenderweise spezialisiert er sich auf Parasitenforschung. Jouri hingegen wird Mathematiker und heiratet, wie sollte es anders sein, eine ehemalige Mitschülerin, Frederica, die ihm, aber auch dem Protagonisten zugetan ist. Der Ich-Erzähler verehelicht sich mit der spröden und wenig attraktiven Flötistin Katja. Unterdessen ist ihm, nicht zuletzt aufgrund der von ihm beobachteten Einflüsse von Parasiten auf alle Lebewesen, sein Glaube abhanden gekommen. Offenbar hat die Musik die frei gewordene Stelle eingenommen. Mit ätzendem Hohn verballhornt der Ich-Erzähler die früher eingeübten religiösen Lehrsätze. „Der Mensch ist das verwerflichste Produkt der Evolution. Nichts ist ihm heilig, nichts ist sicher vor ihm, ausgenommen seine wahnwitzigen Religionen“, äußert er gegenüber seiner Geliebten Lorna, einer Studentin. Anscheinend ohne Skrupel betrügt er seine Frau, mit der er sich bewusst für Kinderlosigkeit entschieden hatte.   

Komödiantisch und tiefernst, satirisch und doppelbödig kommt dieses kurzweilige und lehrhafte Buch daher. Der immense Mentalitätswandel einer ganzen Generation von der Nachkriegszeit bis in die 80er Jahre spiegelt sich darin wider. Im späteren Verlauf ergibt sich allerdings ein Glaubwürdigkeitsproblem, da der Ich-Erzähler weiterhin annimmt, dass Jouri selbst als renommierter Professor nicht von seinem frühkindlich erlernten Verhaltensmuster ablassen werde. Da des öfteren auf die Schlüsselmotive wie den „Schneeflockenbaum“ und das „Spinnengrab“ zurückgegriffen wird – letzteres bezogen auf eine Episode aus der Kindergartenzeit –, wird der Leser bei der Hand genommen und ein wenig gegängelt. So bleibt denn am Ende nur eine Frage offen.           Dagmar Jestrzemski

Maarten ’t Hart: „Der Schneeflockenbaum“, Piper, München 2009, geb., 413 Seiten, 19,95 Euro


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabo bestellen Registrieren