25.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
30.10.10 / Ungewöhnliches Gefühlsroulette / 19 Geschichten, in denen es darum geht, was in sechs Minuten geschehen kann

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 43-10 vom 30. Oktober 2010

Ungewöhnliches Gefühlsroulette
19 Geschichten, in denen es darum geht, was in sechs Minuten geschehen kann

Zu 19 Erzählungen ganz eigener Art lädt Stefan Kraschon den Leser in seinem Buch „Sechs Minuten Schulden“ ein. Die Erzählungen sind nicht nur alle verschieden, sie sind vor allem auch äußerst ungewöhnlich. Mal spannend, mal verwirrend, mal bestürzend oder gar verstörend. Kraschon fordert dem Leser in seinen Geschichten sämtliche Nuancen der Emotionspalette ab. Von Kurzgeschichte zu Kurzgeschichte befindet sich der Leser in einer Art Gefühlsroulette.

Mal geht es darum, was alles Tragisches geschehen kann, wenn man die Minuten, die jemand zu spät zu einer Verabredung gekommen ist, nachträglich einfordert, oder darum, wie schön es sein kann, auch im Alter noch ein Ziel vor Augen zu haben, fernab des Zaunes, welcher die Seniorenresidenz umschließt.

Stefan Kraschons Erzählungen sind grotesk und dennoch stecken sie voller Phantasie, dass man bereit ist, das Groteske zu übersehen. Ein Hamburger Taxifahrer, der regelmäßig eine ältere Dame in einer dunklen Ecke am Hamburger Hafen absetzt, kommt einem Geheimnis auf die Spur, und eine eigensinnige Melodie sucht sich selbst den Kopf aus, in dem sie das erste Mal gehört werden möchte.

Mal erinnern Kraschons Erzählungen an einen Thriller, ein anderes Mal beeindruckt er den Leser durch seine bildhafte und fast schon philosophisch anmutende Sprache. „So schwebte sie da, diese unerhörte Melodie, darauf wartend, dass jemand vorbeikam, sie in sein Herz zu nehmen und ihr reale Töne zu verleihen … Da sie federleicht war, war sie obendrein auch kaum greifbar. Ebenso schwierig lässt sie sich beschreiben: Sie war gasförmig, irisierend, flatterte wie ein Fähnchen im Wind, beständig etwa zehn Meter über dem Bahnsteig … Sie beobachtete den Mann, der auf dem Bahnsteig stand, dem der Regen auf die Hutkrempe fiel, während er offensichtlich auf den Zug wartete … Dieser Mann war Georges Bizet. Er hatte gerade einen hässlichen Disput mit einem Freund gehabt. Und er war überhaupt nicht in der Stimmung für solch seichte Melodie, wie sie sich ihm da gerade so unflätig näherte.“

Kraschons Buch „Sechs Minuten Schulden“ ist eine ungewöhnliche Art von Lektüre, die Erzählungen überraschen durch unvorhersehbare Wendungen, das Unrealistische wird Realität. Wer wie Kraschon selbst ein Freund des Absurden, des Komischen, des Ironischen und des Tragischen ist, wird an diesem Buch sicher seine helle Freude haben.         Vanessa Ney

Stefan Kraschon: „Sechs Minuten Schulden: 19 Erzählungen“, Verlag Neue Literatur, Plauen 2010, broschiert, 230 Seiten, 15,90 Euro


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabo bestellen Registrieren