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06.11.10 / Ein Chinese im Babylon

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 44-10 vom 06. November 2010

Ein Chinese im Babylon
von Vera Lengsfeld

Der Mann auf der Bühne des Filmtheaters „Babylon“ entlockt seiner Langflöte Töne, wie sie in diesem Raum noch nicht gehört wurden. Man vernimmt das Rauschen des gelben Flusses, die Stürme in den Bergen von Chinas Norden und das Klagen der geschundenen Kreatur. Es wird im bis auf dem letzten Platz besetzten Saal totenstill. Selbst die notorischen Dauerhuster halten den Atem an. Für fast alle ist die chinesische Musik so fremd wie die Sprache im Reich der Mitte. Aber alle verstehen sie.

Liao Yiwu hatte nichts zu lachen, als er mitten in der von Mao inszenierten Hungerkatastrophe Ende der 50er Jahre auf die Welt kam. Deshalb wurde er Humorist. Seine Satiren in Wort und Ton machten ihn zu einen der populärsten und meist­gedruckten Autoren der 80er Jahre.

Bis ihm angesichts der Ereignisse auf dem Platz des Himmlischen Friedens 1989 das  Lachen endgültig verging. Sein Langgedicht „Das Massaker“ brachte ihm vier Jahre Gefängnis ein. Dort schrieb er seine Gedichte in winzigen Zeichen zwischen die Zeilen des einzigen Buches, das er dort hatte. Von einem alten Mönch, von dem niemand mehr sagen konnte, wie lange er schon einsaß, lernte er Langflöte spielen.

Seit seiner Entlassung verdient er seinen Lebensunterhalt als Straßenmusiker in einer Kleinstadt an der Grenze zu Tibet und veröffentlicht Interviews mit Menschen aus Chinas Gesellschaft von unten. Bis zu seiner Reise nach Deutschland hatte er China noch nie verlassen. Es ist sein letzter Abend. Am nächsten Morgen wird er nach Peking fliegen und dann in seine Provinzstadt zurück­kehren.

Wer Liao Yiwu erlebt hat, weiß in dieser kurzen Zeit mehr über China, als die Touristen, die seit einiger Zeit das Land bereisen und vom Aufschwung mit Recht  fasziniert sind, je erfahren werden.

Neben dem Glanz und Glitzer der kommunistischen Marktwirtschaft gibt es nach wie vor die finsteren Seiten der totalitären Diktatur. Die Standbilder der Kommunisten sind aus der Öffentlichkeit verschwunden. Maos Bildnis ist nur noch über dem Eingang der Verbotenen Stadt zu sehen. Aber sein Geist hat das Land nach wie vor im tödlichen Griff.

Im Westen wird das gern vergessen. China ist ein wichtiger Handelspartner und ein begehrter Markt für zukünftige Geschäfte. Da neigt man dazu, die täglichen Menschrechtsverletzungen zu ignorieren.

Liao Yiwu gibt denen, die im Dunklen übersehen werden, eine eindrückliche Stimme. „Unter der Erde ist der Mensch nicht einen Dreck wert“, singt er und mahnt, sich für das Leben hier und heute starkzumachen. Im Kino „Babylon“ ist seine Botschaft angekommen.


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