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06.11.10 / Erst Dämmerung, dann Nacht / Südböhmische Familiensaga schildert, wie »die Zeit aus den Fugen« geriet

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 44-10 vom 06. November 2010

Erst Dämmerung, dann Nacht
Südböhmische Familiensaga schildert, wie »die Zeit aus den Fugen« geriet

„Die Zeit aus den Fugen“: Ein faszinierendes Buch, das bereits durch seine „Dramaturgie“ besticht: Enkel Teja Fiedler erzählt stil- und pointensicher das Leben von Vater Alois Fiedler, der sich in Nöten und Zweifeln gern an Weisheit und Weitsicht von Großvater Isidor Fiedler erinnert. „Sonntagsreden“ meidet das Buch, es scheint, als zwinkere der Autor dem Leser zu: Wir wissen doch, was alles geschehen ist, da reicht ein hingetupfter Hinweis zur Erinnerung. Dennoch ist es ein profundes Geschichtswerk – unter der Voraussetzung, dass „Geschichte“ Leben und Leiden von Menschen meint.

„Bühne“ dieser Familiensaga ist das Dorf Rohn beim südböhmischen Städtchen Prachatitz. Dahinter verschwimmt die Geschichtskulisse, auf der nacheinander Wien, Prag und Berlin erscheinen, die Hauptstädte, von denen aus Leben und Leiden auch südböhmischer Waldbauern bestimmt wurde. Die Schilderung dessen füllt eingangs Dutzende Seiten, leicht und fröhlich wie ein Schelmenroman. Erst als Student merkt Alois Fiedler, dass die Deutschen in der Habsburger Monarchie zwar dominieren, dass aber die Slawen, vor allem die Tschechen, Fiedlers Schulkameraden und Prager Kommilitonen, zur politischen und kulturellen Gleichberechtigung drängen. Andere Bücher würden hier lange Exkurse über „Volkstumskämpfe“ starten, Teja Fiedler leuchtet mit ein paar einfachen Feststellungen aktuelle Lagen und künftige Konflikte aus: „In Prag waren die Deutschen für die Tschechen der Pfahl im Fleisch. Die Deutschen stellten gerade einmal zehn Prozent der Einwohner. Doch diese kleine Minderheit ... dirigierte das Wirtschaftsleben, bestimmte die Kultur.“

Reserveleutnant Alois Fiedler muss 1914 in den Krieg, Sohn Teja rekapituliert politische Überlegungen aus Habsburgs Endzeit: „Die verdammten Serben mussten bestraft werden, das war sich Österreichs Ehre schuldig. Aber dann? Sie werden ihre russischen Brüder um Hilfe bitten. Die preußischen Pickelhauben werden uns daraufhin zur Seite springen ... Und sobald die Deutschen sich einmischen, marschieren die Franzosen mit den Russen und vielleicht sogar die Engländer ... der Krieg, den jeder wollte und keiner wollte, war da.“ So würde kein Fachhistoriker schreiben, und doch ersetzen solche Sätze dick-leibige Geschichtsstudien!

Autor Fiedler beherrscht diese darstellerische Indirektheit meisterhaft, selbst blutige Schlachtszenen vermag er so zu schildern, dass man nicht angewidert Dutzende Seiten überschlägt. Dabei kann dieser Autor rückhaltlosen Klartext reden, etwa wenn er den Krieg „vier Jahre Dreck, Angst, Läuse, Saufraß und Dünnschiss“ nennt. Es folgen bewegte Zeiten daheim, für die Großvater „Dori“ eine bündige Formel prägt: „Deutsch-Böhmen als Teil von Deutsch-Österreich können wir vergessen. Unser Staat heißt in Zukunft Tschechoslowakei, ob wir wollen oder nicht.“ Die Fiedlers bleiben misstrauisch, verstehen aber, dass nach Jahrhunderten deutscher Dominanz jetzt in Böhmen Tschechen „dran“ sind. Man meistert soziale Probleme, auch familiäre, die wegen der geisteskranken Mutter ohnehin die schwereren sind. Über die Zukunft machen sich Vater Alois und Großvater Isidor keine Illusionen, wie Sohn Teja sagt: „Einerseits war ein Staat ohne die deutsch besiedelten Ränder nicht lebensfähig. Andererseits machten drei Millionen Deutsche einen echten tschechischen Nationalstaat unmöglich. Die Tschechen misstrauten ihren Deutschen.“

Das Münchner Abkommen 1938 und das „Protektorat“ ab 1939 bestätigen tschechische Ängste, Vater Alois weiß von Juden-Deportationen und erwartet Schlimmes. Mit dem Kriegsende kommt die Sowjetarmee, deren Offiziere sich anständiger benehmen als mancher tschechische „Partisan“. Vater Alois wird inhaftiert, die restliche Familie Fiedler vertrieben – nach Deutschland, wo Deutsche ihnen feindlich entgegentreten. Alois wird von einem tschechischen Gericht freigesprochen, weil Tschechen und Juden für ihn aussagten, aber der Vertreibung entkam er nicht. Immerhin kam er zu seiner Familie nach Bayern, wo der promovierte Jurist jahrelang keine berufliche Chance erhält. Nur bei diesen Passagen wechselt Autor Fiedler zu galliger Bitternis, wo er durchgehend einen heiteren Fatalismus bevorzugt: „Du hast Recht, Schicksal.“  Wolf Oschlies

Teja Fiedler: „Die Zeit ist aus den Fugen – Vom Kaiserleutnant zum Vertriebenen – Das Leben meines Vaters“, Piper , München 2010, gebunden, 320 Seiten, 19,95 Euro


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