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20.11.10 / Nichts dem Zufall überlassen / Bilder von Ernst Ludwig Kirchner in einer Hamburger Ausstellung zeigen Arbeitsweise des Künstlers

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 46-10 vom 20. November 2010

Nichts dem Zufall überlassen
Bilder von Ernst Ludwig Kirchner in einer Hamburger Ausstellung zeigen Arbeitsweise des Künstlers

Und wie geht es Ihnen?“, fragt die Frau interessiert. Sie steht vor einem Selbstbildnis, das Ernst Ludwig Kirchner 1914 malte. Die Besucher der Ausstellung drehen sich verwundert um. Sollte sie …? Doch das Erstaunen währt nicht lange, als sie merken, dass die Frau keineswegs ein Gespräch mit dem Künstler führen möchte, sondern vielmehr ein Handy ans Ohr hält. Ganz unabhängig davon, ob man in einem Museum telefonieren sollte, dem Befinden und dem Lebensweg des Künstlers kann man durchaus nachgehen, betrachtet man die ausgestellten Werke genauer.

Die Hamburger Kunsthalle präsentiert mit ihrer Ausstellung im Hubertus-Wald-Forum einen repräsentativen Überblick über das Werk Kirchners (1880–1938), der als einer der einflussreichsten deutschen Künstlerpersönlichkeiten der Klassischen Moderne gilt. Das Gründungsmitglied der Künstlergruppe „Brücke“ erzielte besonders im Bereich der Druck-graphik die innovativsten Formlösungen seiner Zeit. Doch im Mittelpunkt stehen die Gemälde aus dem eigenen Bestand der Kunsthalle, erweitert durch ausgewählte Leihgaben, die zu den Höhepunkten im malerischen Œuvre Kirchners zählen. Viele der Werke stammen aus Privatsammlungen und waren bislang kaum ausgestellt.

Erstmals werden die Bilder mit den vorbereitenden Skizzen, der motivisch verwandten Druckgrafik und mit Fotografien Kirchners gemeinsam gezeigt, so dass der Betrachter den Schaffensprozess nachvollziehen kann.

„So expressiv, so aus dem Bauch heraus, wie viele meinen, war Kirchner gar nicht“, meint Ulrich Luck-hardt, neben Andrew Hurttig Kurator der Ausstellung. „Er hat nicht das gemalt, was er gerade gespürt hat. Seine Gemälde, die so spontan, schnell und unmittelbar wirken, sind in Wahrheit genau vorbereitet und geplant. Er hat nichts dem Zufall überlassen.“ Andrew Hurttig ergänzt: „Ernst Ludwig Kirchner ist nicht von Motiv zu Motiv übergegangen, sondern hat sich oft über längere Zeiträume mit ein und demselben Thema beschäftigt und dieses variiert.“ So sieht man denn auch in der Hamburger Ausstellung eine beachtliche Reihe von Aktdarstellungen, darunter großformatige Zeichnungen im einheitlichen Maß von 90 mal 69 Zentimetern, die zwischen 1906 und 1913 in Dresden und Berlin entstanden. Die chronologisch aufgebaute Ausstellung  – von Dresden und Berlin über Fehmarn, wo Kirchner sich im Sommer aufhielt und zu seinem typischen Stil fand, bis Davos, wo er sich von seiner Medikamentenabhängigkeit erholen sollte und wo er schließlich aus Angst vor den Nationalsozialisten den Freitod wählte – macht allerdings auch deutlich, welche Verluste die Hamburger Kunsthalle durch die Aktion „Entartete Kunst“ 1937 erlitt. Von der damals umfangreichen Kirchner-Sammlung entging nur eine Lithografie dem Bildersturm. Heute sind wieder sieben Gemälde, 23 Zeichnungen und Aquarelle sowie 77 druckgrafische Arbeiten in Hamburg beheimatet.

Überhaupt war die Sammlung durch die nationalsozialistische Aktion „Entartete Kunst“ stark dezimiert, dennoch zeigt der gerade erschienene Bestandskatalog nun wieder mehr als 700 Gemälde der Sammlung Klassische Moderne. Die wissenschaftlichen Texte  machen die Entstehungsgeschichte jedes einzelnen Kunstwerks lebendig und ordnen es gleichzeitig in das Œuvre des jeweiligen Künstlers ein. Mit den Abbildungen von jedem Gemälde und den Daten kann sich der Leser selbst von der Qualität dieser eindrucksvollen Sammlung überzeugen.          os

Uwe M. Schneede, Ulrich Luck-hardt (Hg.): „Die Gemälde der Klassischen Moderne“, Die Sammlungen der Hamburger Kunsthalle, Band IV, Wienand Verlag, Köln 2010, 456 Seiten mit 18 farbigen und 780 schwarzweißen Abbildungen, Klappbroschur, 38 Euro.


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