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04.12.10 / »Diskussion ist keine Schande« / Spannende Begegnung mit der Glaubensgemeinschaft der Aleviten in Deutschland

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 48-10 vom 04. Dezember 2010

»Diskussion ist keine Schande«
Spannende Begegnung mit der Glaubensgemeinschaft der Aleviten in Deutschland

In Deutschland leben rund 700000 Aleviten anatolischer Herkunft – mehr als Italiener. Doch sie sind so unauffällig, dass sie ganz aus dem Blick der Öffentlichkeit geraten sind.

Von der Deutschen Islamkonferenz werden sie zu den Muslimen gezählt, von muslimischen Verbänden werden sie innerhalb der Konferenz zwar toleriert, von einer Anerkennung jedoch kann keine Rede sein. Deutlicher: Konservative sunnitische und schiitische Muslime sehen in Aleviten Nestbeschmutzer, Irrgläubige und im schlimmsten Fall Ungläubige, deren Überzeugungen den Islam beleidigten. In Deutschland leben rund 700000 Aleviten meist türkischer Herkunft, etwa 60 Prozent von ihnen sind inzwischen deutsche Staatsbürger. In der Türkei leben rund 20 Millionen Aleviten, welche von der Mehrheit der Sunniten diskriminiert und verachtet werden.

Auch Deutschland tut sich mit den Aleviten schwer. Selbst auf der Internetseite der Islamkonferenz findet kaum eine Auseinandersetzung mit der Glaubensrichtung statt. Der Leser erfährt lediglich, dass Aleviten nicht in der Moschee beten und neben Allah und dem Propheten Mohammed auch dessen Schwiegersohn Ali verehren. Kein Hinweis, dass die angebliche Gemeinsamkeit mit schiitischen Muslimen, zum Beispiel iranischer Prägung, ein gravierendes Missverständnis ist.

Wer das Alevitische Kulturzentrum in Hamburg-Altona besucht, spürt schnell, warum konservative Muslime mit Aleviten nichts zu tun haben wollen. Schon vor der Tür stehen junge Leute, von drinnen hört man die Klänge einer Saz, einem türkischen Saiteninstrument ähnlich einer Laute. Im Büro unterhalten sich zwei junge Männer. Ein freundliches „Hallo, geh doch rein, da sind noch mehr, da kann dir jeder etwas über uns erzählen.“ Ich bin irritiert, gehe in den Saal, angeregte Gespräche unter Männern und Frauen, Jung und Alt. Auffällig: keine Kopftücher. Der einzige, der hier einen Vollbart trägt, bin ich. Und, man spricht Deutsch, auch untereinander.

An den Wänden hängen Bilder von Msystikern wie Hadschi Bektasch (in türkischer Schreibung: Haci Bektasch) oder Ali, dem Gefährten des Propheten Mohammed. In einer Moschee oder einem islamischen Kulturzentrum unvorstellbar. Ich komme mit Cengiz Orhan ins Gespräch, er ist Vorsitzender des Kulturzentrums. Er formuliert die Wahrnehmung von den Aleviten in Deutschland so: „Wir werden, wenn es um Religion und Integration geht, eingeladen, aber wir fallen nicht auf.“ Orhan ist Mitglied im Integrationsbeirat der Stadt Hamburg. Mit anderen islamischen Verbänden gäbe es keine gemeinsamen Aktivitäten, diese äußerten sich auch nicht, man sitze an einem Tisch, nicht mehr. Über das Alevitentum wird erst seit den letzten 30 Jahren in Deutschland zaghaft diskutiert, auch über den Ursprung des alevitischen Glaubens. „Auch wir diskutieren über unser Selbstverständnis und unsere Religion, Diskussion ist keine Schande“, meint Orhan.

Einige Gemeindemitglieder haben sich zu uns gesetzt. Ich will wissen, wie sie sich in der muslimischen Gemeinschaft selbst sehen. Ein Mann erklärt mir, dass er sich gar nicht als Moslem sehe, das Alevitentum sehe er als eigenständige Religion. Ein anderer meint, man gehöre schon dem Islam an, „aber unser Glaubensverständnis ist anders als bei Sunniten und Schiiten, wir lehnen zum Beispiel die Scharia strikt ab“. Dass sich Aleviten absolut von jeglicher Gewalt distanzieren, fügt Cengiz Orhan noch hinzu, dieses Bekenntnis fehle bisher im Islam grundsätzlich. „Für uns ist nicht wichtig, welcher Religion ein Mensch angehört, dies ist im konservativen Islam anders, wir üben keine missionierende Religion aus.“

Keine leeren Worte. Im Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg (55 Prozent Ausländeranteil) lerne ich einen jungen Mann kennen. Kemal betreibt mit seinem Bruder und dessen Frau einen kleinen Laden. Auch Kemal und sein Bruder sind Aleviten. Der 20-Jährige liebt schöne Frauen und Autos, sein Deutsch ist perfekt, akzentfrei. Gerade war seine Freundin da. „Ihr habt gar nicht Türkisch gesprochen“, bemerke ich. Kemal lacht. Sie sei keine Türkin, sie komme aus Albanien und sei Christin. „Mit Türkinnen ist das so eine Sache, wenn die Familie erfährt, dass ich Alevit bin, gibts nur Stress.“ Und: Schöne Frauen gibt es überall. Er habe da weniger Probleme, welcher Religion jemand angehöre, nur hätten Muslime meist ein Problem mit Andersgläubigen, das wäre schon in der Schule so gewesen. Sein Bruder ist mit einer Aramäerin verheiratet. Auch für die beiden stellt der religiöse Unterschied kein Problem dar. Über die Integrationsdiskussion in Deutschland schmunzelt der junge Mann nur. „Deutschland ist meine Heimat, was gibt’s da zu sagen. Fahr mal in die Türkei, da sind wir nichts …“ Mariano Albrecht


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