24.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
25.12.10 / Tilsit im US-Bundesstaat Missouri / Auf einer Entdeckungstour in den Mittleren Westen stieß der Ostpreuße Martin Schierenberg auf ein Stück Heimat

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 51-10 vom 25. Dezember 2010

Tilsit im US-Bundesstaat Missouri
Auf einer Entdeckungstour in den Mittleren Westen stieß der Ostpreuße Martin Schierenberg auf ein Stück Heimat

Wo man es nicht vermuten sollte, auf einer Entdeckungstour in den Mittleren Westen der USA, ist der Tilsiter Martin Schierenberg auf Tilsit gestoßen. Als der Ostpreuße von der malerisch am Mississippi gelegenen Kreisstadt Cape Giran­deau aus auf dem Highway K in westlicher Richtung fuhr, stieß er nach genau 23 Kilometern auf einen Wegweiser, der eine Abzweigung nach Tilsit anzeigte.

Der Ort liegt in einer sanft hügeligen Landschaft im Vorland der Ozark Mountains. Weit verstreut sieht man einige Farmen und Kühe auf der Weide. Mittelpunkt des Ortes ist die auf einem Hügel gelegene Kirche. Sie war verschlossen, als Schierenberg der Namensschwester seiner Heimatstadt einen Besuch abstattete. Nahe der lutherischen Kirche besuchte Martin den Friedhof. Alle Inschriften auf den Grabsteinen deuteten auf deutsche Einwanderer. Doch der einzige Einwohner, der auf der Straße anzutreffen war, wusste von der Vergangenheit absolut nichts.

Die Auswertung historischer Quellen ergab dann, was Name und Friedhof bereits vermuten ließen. Tilsit hat eine urdeutsche Vergangenheit. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts ließen sich an dem Ort, der heute Tilsit heißt, die ersten Siedler nieder. Sie kamen aus Deutschland. Die Gegend gefiel ihnen. Es war ein anmutiger Höhenrücken mit fruchtbarem Farmland.

1849 schlossen sich die Einwanderer zu einer Deutschen Evangelisch-Reformierten Gemeinde zusammen, errichteten ein Gotteshaus und 1858 die erste Schule. Die Gottesdienste versahen die Laienprediger Jakob Kneibert und Jakob Tobler. Es versteht sich, dass die Gottesdienste in Deutsch gehalten wurden. 1860 hatte die Kirchengemeinde 58 Mitglieder und sie wuchs rasch an. Im Laufe der Jahre kam es jedoch zu inhaltlichen Kontroversen, die dazu führten, dass sich die Kirchgemeinde im Jahre 1866 spaltete.

Der größere Teil gründete unter Pfarrer Richard Biedermann die evangelisch-lutherische Kirchengemeinde. Noch im gleichen Jahr wurde ein Blockhaus errichtet, das als Kirche und Schule diente. Diese provisorische Blockhauskirche wurde 1867 durch einen Massivbau aus selbstgefertigten Ziegeln ersetzt. 1895 errichtete man eine größere Schule aus Holz mit steinernem Fundament. Aber auch die Konkurrenz, die Evangelisch-Reformierte Gemeinde baute 1898 für ihre Gemeindemitglieder eine neue Schule, eine neue Kirche und 1902 ein Pfarrhaus.

In den 1870er Jahren war der Ort, der sich einfach Farmers Village nannte, erheblich aufgeblüht. Handel und Handwerk siedelten sich an. 1877 eröffnete der Kaufmann John Kerstner ein Geschäft und baute es zu einem Grand Store aus. Der Ostpreuße Fritz Kaminski betrieb eine Sattlerei und Schuhmacherei, der Sachse Louis Kipping eine Schmiede. Die Schmiede übernahm 1889 John Rudert, weil Louis Kipping den Store kaufte und zusätzlich ein Postamt eröffnete.

Damit wurde eine postalische Anschrift erforderlich. Postmeister Kipping schlug als königstreuer Sachse den Namen Carola vor. So hieß die Gemahlin König Alberts von Sachsen (1833-1907). Ferner brachte er den Namen seiner Geburtsstadt Dresden in Vorschlag. Beide Namen wurden abgelehnt. Fritz Kaminski, ein gebürtiger Tilsiter, schlug den Namen Tilsit vor. Tilsit fand die mehrheitliche Unterstützung der deutschen Siedler und wurde von der Postbehörde akzeptiert. Er existiert offiziell seit dem Jahre 1889.

Das Postamt wurde nun auch regelmäßig von einer Postkutschenlinie bedient, die zwischen Gordonville und Tilsit pendelte. Alten Berichten ist zu entnehmen, dass Postkutscher Christian Frisch nach alter deutscher Sitte sein Kommen mit dem Posthorn ankündigte. Die Verkehrsverbindung wurde im Laufe der Jahre sternförmig nach anderen Orten erweitert. Tilsit wurde zu einem wichtigen Umsteigezentrum.

Dadurch kam Leben in die Stadt. Thomas Kinder eröffnete um die Jahrhundertwende einen Saloon, der sich "Kinders Bierhaus" nannte. Überhaupt muss es in dieser Zeit vor dem Ersten Weltkrieg - glaubt man den Erinnerungsberichten in den Zeitungen - ein glückliches und freies Leben gegeben haben. Eine deutsche Turnerschaft gab es ebenso wie musikalische Talente, die bei jeder passenden Gelegenheit zum Tanz aufspielten.

Auch das kirchliche Leben fand in dieser Zeit großen Zuspruch. Die Evangelisch-Lutherische Kirche entschloss sich zu einem modernen Kirchenbau. Pfarrer Wagner beauftragte einen Architekten aus St. Louis, Ziegel wurden aus Jackson beschafft. Das eindrucksvolle Bauwerk aus dem Jahre 1900 wurde mit Empore und Orgel ausgestattet und steht noch heute.

Im Ort gab es alles, was man zum Leben brauchte. Es gab zwei Kaufläden, ein Restaurant, die Post, zwei Kirchen, zwei Schulen und zeitweilig praktizierte sogar ein Arzt. Die ersten Autos tauchten auf. Rudert, Kipping und Kaufmann Mantz, der den Rudertschen Store von 1921 bis 1938 weiter betrieb, waren die ersten Autobesitzer.

Das wirtschaftliche Leben war geprägt von einem Sägewerk und zwei Schmiedewerkstätten. Die Schulen waren gut besucht, die Elementary and Junior High School bekam mit John Bartel einen hauptamtlichen Lehrer.

Doch 1917 traten die USA in den Ersten Weltkrieg ein und fast alles veränderte sich. Bartel musste sich mit der bitteren Tatsache abfinden, dass der Unterricht in deutscher Sprache nicht mehr erlaubt war. Es durfte nur noch in Englisch unterrichtet werden. Auch im Zweiten Weltkrieg wurde das Deutschtum bekämpft, was sich sogar auf das kirchliche Leben auswirkte. Die Evangelisch-Lutherische Kirchgemeinde durfte die Bezeichnung Tilsit nicht mehr verwenden. Sie hieß nun Jackson, Route 2. Dem kirchlichen Leben tat dieses jedoch keinen Abbruch. Zur 50-Jahrfeier des Kirchenbaus im Jahre 1950 erhielt die Kirchenfassade eine Kunststeinverkleidung, das Dach einen neuen Belag und auch ein Elektroanschluss wurden verlegt. 1962 entstand ein geräumiges Pfarrhaus und 1966 eine neue Gemeindehalle, eine sogenannte Parrish Hall.

Dennoch, es wurde stiller in Tilsit. Im Jahre 1971 geriet der Ort allerdings in die Schlagzeilen. Ein Tornado war über Tilsit hinweggefegt. Er hinterließ seine Spuren. Zerstörte Scheunen, beschädigte Häuser, zerbrochene Bäume und sogar ein abgerissenes Kreuz auf der Kirchturmspitze waren das Ergebnis. Zum Glück gab es keine Toten. In den letzten Jahren ging die Einwohnerzahl durch Abwanderung stetig zurück. So hat Tilsit heute keine eigene Gemeindeverwaltung mehr, sondern zählt zu den Unincorparated, das heißt, es wird von einer größeren Gemeinde verwaltet. Zuständig dafür ist Cape Girardeau. Heute leben nur noch um die 100 Einwohner in Tilsit. Was bleibt, sind die vielen Grabsteine mit den deutschen Namen auf den Friedhöfen. Sie sind stumme Zeugen einer bewegten Vergangenheit.     Hans Dzieran


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabo bestellen Registrieren