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01.01.11 / Gang durch die Neujahrsnacht / Angeblich reden Tiere zum Jahreswechsel und manch anderes Seltsames soll dann auch geschehen, so sagt man

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 52-10 vom 01. Januar 2011

Gang durch die Neujahrsnacht
Angeblich reden Tiere zum Jahreswechsel und manch anderes Seltsames soll dann auch geschehen, so sagt man

Nach Mitternacht ging die kleine Gesellschaft wieder in das Haus zurück. Die Glocken der nahen Kirche, die das neue Jahr eingeläutet hatten, waren verstummt. Der Hausherr hatte sein Feuerwerk im Park abgebrannt unter dem Jubel der Dorfkinder, die auf der Mauer hockten. Auch das Bleigießen war vorüber. Man rätselte noch eine wenig über die bizarren Figuren, die man im Schein des Kaminfeuers gegen die Wand hielt, um das Schattenbild besser deuten zu können. Der kräftige Arrakpunsch duftete aus den Gläsern. Die Hausfrau reichte eine große Schüssel mit Pfannkuchen herum. Man aß und trank - die Stunde draußen im verschneiten Park hatte alle hungrig gemacht. Plötzlich entstand auf der Diele Lärm. Kinderstimmen lachten, schwere Schritte polterten die Treppe hinunter, dann fiel die Tür krachend ins Schloss. "Sind die Lümmel denn noch nicht im Bett?", dröhnte der Bass des Hausherrn in dem ein nachsichtiges Lächeln mit schwang. Der blonde Pagenkopf des Jüngsten zwängte sich durch den Türspalt. "Vatchen, Mathes ist ganz nass!" Schon hatte sich die kleine Gestalt im Nachthemd durch die Tür geschoben und hockte auf den Knien des Vaters. "Was habt ihr denn mit dem Mathes gemacht?" "Ach weißt, wir haben ihm erzählt, dass die Tiere heute Nacht reden können. Das stimmt doch, Vatchen, nicht? Und dann hat der Schorsch gesagt, oben auf der Lucht hocken die Spatzen im Schornstein und die reden ganz laut, er hat’s genau gehört. Dann hat der Schorsch sich aber hinter’m Schornstein versteckt, mit ’ner großen Kruk’ voll Wasser, und wie der Mathes is raufgeklettert, hat er ihn beplaukscht, aber wie! Da is der Mathes boßig geworden und is weggerannt …" Der Kleine schlug die Hände zusammen. "Das alte Spiel", nickte der Vater, "so haben wir auch immer die Hirtsjungen reingelegt, und so haben wir selber was auf den Kopf bekommen. Nun aber ins Bett, Matzchen." Die Gäste lachten noch, als der Kleine verschwunden war. "Was ist das denn für ein Aberglauben?", fragte der junge Assessor, der vor einigen Monaten an das Amtsgericht der Kreisstadt versetzt worden war. "Was - dass Tiere in der Neujahrsnacht reden?" Der Hausherr nahm einen kräftigen Zug aus dem Glas. "Ja, so heißt es, und Seltsames ist schon manchmal in der Neujahrsnacht geschehen. Ich denk’ noch als der Rappe sich losgerissen hatte und in der Neujahrsnacht zitternd im Hof stand und keine Menschenseele ihn in den Stall zurückbekam. Und drei Nächte später brannte der Stall ab und mit ihm verbrannten vier Pferde, die wir nicht mehr retten konnten." Dieser und jener begann nun zu erzählen, sonderbare Geschichten aus der Neujahrsnacht, und der Arrakgrog mochte wohl die Phantasie beflügeln. Bis der Tierarzt sich erhob: "Ich glaub’ mein guter Fuchs, sagt jetzt auch zu mir: Oler, spann an on driew noah Hus, du hest jenoch jefiert!" Der Abschied erfolgte in dem allgemeinen Gelächter, das der lustige Doktor heraufbeschworen hatte. Die Schlitten fuhren vom Hof, einer nach dem andern. Noch ein Winken, ein letztes Prost Neujahr!", dann verhallte das Läuten der Schlittenglocken auf der Chaussee.

Der Assessor saß neben dem Tierarzt, fröstelnd in seinen Mantel gehüllt, denn die Kälte der ostpreußischen Neujahrsnacht machte sich trotz des kräftigen Punsches bemerkbar. Sie müssen sich auch ’nen Pelz anschaffen, Assessorchen", ratschlagte der Tierarzt, aus dessen hochgeschlagenem Otterkragen nur die rote Nase hervorleuchtete, "mag ja gutes Tuch sein, was Sie da haben, aber das wärmt doch nicht!" Er schob ihm fürsorglich die dicke Schaffelldecke über die Knie. Kurz hinter dem Tor, schon im Windschatten der ersten, niedrigen Häuser, hielt der Tierarzt den Schlitten an. Der Assessor stieg aus. Er hatte nur durch einige kleine Straßen bis zu seiner Wohnung zu gehen. Der Abschied war wegen der späten Stunde kurz. Die Schritte des jungen Mannes, der eilig nach Hause strebte, wurden bald unsicher, denn die dünnen Sohlen seiner modischen Lackschuhe glitten auf den blanken Spuren aus, die von Kinderschlitten gezogen waren. Verschlafen kauerten die dunklen Häuser in ihren Gärten. Der Lärm der Jahreswende war verstummt. Plötzlich, einem unerklärlichen Zwang folgend, drehte der Assessor sich um. Er schrak zusammen: Ein schmaler Schatten war in diesem Augenblick in das Dunkel einer vorspringenden Hauswand geschlüpft. Nun kam er scheu und witternd hervor. Es war ein Hund, ein mageres, wolfsgroßes Tier. Der Assessor war kein Tierfreund, und Hunde waren ihm schon ganz zuwider. Er scheuchte das Tier mit der erhobenen Hand zurück und versuchte, schneller auszuschreiten. Als er sich an der nächsten Ecke umdrehte, sah er den Schatten wieder hinter sich. "Geh fort", keuchte er und hob einen harten Schneeklumpen auf, den er nach dem Hund warf. Der Schatten glitt lautlos zur Seite, um sich dann, als der Mann weiterging, wieder an dessen Fersen zu heften. Das Spiel wiederholte sich noch etliche Male. Der Hund blieb - ohne einen Laut von sich zu geben - auf der Fährte des Mannes. Als der Assessor in eine schmale Gasse einbiegen wollte, um den Weg zu seiner nun schon nahen Wohnung noch etwas abzukürzen, sprang der Hund mit einem drohenden Knurrlaut vor. Er glitt an dem Mann vorbei, und duckte sich, kaum drei Schritte von ihm entfernt in den Schnee. Im Schein der nahen Laterne sah der Assessor das drohende Gebiss, das sich ihm wütend entgegenfletschte. Und als der Mann, verwirrt und am ganzen Leibe zitternd, noch einen Schritt vorwärts ging, setzte der Hund zum Sprung an. Abwehrend hob der Mann den Arm vor die Brust, während er langsam, Schritt für Schritt, zurückging. Er ließ den Hund nicht aus den Augen. Keuchend blieb er auf der Mitte der Straße stehen. Er sah den dunklen Fleck im Schnee der Gasse. Der Hund rührte sich nicht. Gerade wollte der Mann sich umdrehen, als ein Dröhnen aus der Gasse kam, dann ein Poltern und Klirren und schließlich ein dumpfer, erstickender Laut. Und er sah im hellen Licht der Schneenacht, dass sich - wohl 30 Schritte von ihm entfernt in der schmalen Gasse - an einem baufälligen und schon lange geräumten Haus ein vorspringendes Giebelstück unter der Last des Schnees gelöst hatte und mit der Wächte herabgestürzt war. Der Mann stand reglos da und starrte auf den unheimlichen Schneeberg, aus dem dunkel Mauerbrocken und Balken ragten. Er wäre wohl gerade an dieser Stelle gewesen, wenn er den Weg durch die Gasse genommen hätte. In den anliegenden Häusern wurden die Fenster hell. Verschlafene, erschrockene Gesichter pressten sich an die Scheiben. Der Assessor wandte sich um und ging davon. Er blickte nach einer Weile noch einmal zurück. Im Schnee wanderte nur sein eigener Schatten mit.          Ruth Geede


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