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01.01.11 / Der Schmerz wirkt noch immer nach / Zeitzeugenberichte aus kindlicher Perspektive schildern das Geschehen im Zweiten Weltkrieg

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 52-10 vom 01. Januar 2011

Der Schmerz wirkt noch immer nach
Zeitzeugenberichte aus kindlicher Perspektive schildern das Geschehen im Zweiten Weltkrieg

Furchteinflößende Nachrichten, Nächte im Luftschutzkeller, Bombardierung und der Verlust von Familienangehörigen prägten im Zweiten Weltkrieg den Alltag der Kinder. Dokumentationen beleuchten ihr Schicksal.

Zahllose Kinder waren von Flucht, Heimatverlust und Soldatenwillkür betroffen. In den darauf folgenden Jahren des mühsamen Neuanfangs wollten oder konnten die Menschen über die Schrecken des Krieges nicht oder nur andeutungsweise sprechen. Später waren es in den Familien eher die Ä„lteren, die über den Krieg und die Verbrechen des Hitler-Re-gimes debattierten. Gerade das Erinnerungsgut der ehemaligen Kriegskinder blieb jahrzehntelang verborgen. Inzwischen sind sie betagt, und immer mehr haben ihr Schweigen gebrochen. Zuletzt hat sich die ARD mit ihrer erstmals im Frühjahr 2009 ausgestrahlten vierteiligen Dokumentation "Kriegskinder" dieses Themas angenommen. Das Begleitbuch zur Serie stammt aus der Feder der Berliner Autoren Sonya und Yuri Winterberg. "Kriegskinder - Erinnerungen einer Generation" ist eine Nacherzählung von Kriegserlebnissen, die auf einer Fülle von Zeitzeugenberichten aus kindlicher Perspektive beruht. Aus rund 500 Dokumenten sowie Meldungen aufgrund eines Aufrufs resultiert die vorliegende Auswahl von 52 überwiegend deutschen sowie einigen englischen, französischen, polnischen und russischen Interviewpartnern und Berichten. Auch Prominente wie Joachim Fuchsberger, Dieter Hallervorden und Günter Kunert gaben auf Anfrage des Autorenteams Auskunft.

Erstmals wurde mit dieser Zusammenstellung eine europäische Perspektive eröffnet. Da die Kapitel nach dem Vorbild der Fernsehdokumentation aus kurzen oder längeren Sequenzen bestehen, begegnen die meisten der kindlichen Akteure dem Leser im Verlauf der Lektüre mehrmals. Wie aus einem Guss ist die Schilderung, wodurch die Dramatik des Geschehens allerdings abgeschwächt wird. Abgefedert wird diese Tendenz dadurch, dass zwischendurch immer wieder ein Originalton anklingt.

"Der Berliner Junge (Günter Kunert) lauscht, in einer Ecke sitzend, gespannt den Gesprächen der Verwandten und wundert sich. ‚Hitler wird im polnischen Korridor stolpern!‘ Wieso soll Hitler im Korridor stolpern? Und warum ausgerechnet im polnischen? Durch diesen polnischen Korridor, der Ostpreußen und das Deutsche Reich seit dem Versailler Vertrag trennt, fährt die elfjährige Berlinerin Gisela Ott. Die Familie musste ihren Besuch in Ostpreußen vorzeitig abbrechen, um zurück nach Hause zu kommen. Der Zug ist verschlossen, so dass während der Fahrt durch das fremde Territorium niemand aus- oder zusteigen kann. An den Straßenrändern und Bahndämmen stehen Polen und drohen dem Zug mit der Faust."

Im Vorwort steht das Zitat einer jüdischen Freundin der Autorin Sonja Winterberg: "Die traumatischen Erlebnisse, die eine Generation nicht aufarbeitet, werden an die nächste Generation weitergegeben. Es ist an dir, diesen Kreislauf zu durchbrechen." In der Tat handelt es sich dabei um ein Phänomen, auf das man erst kürzlich aufmerksam wurde. 65 Jahre nach Kriegsende leiden die Nachkommen der Kriegskinder vermehrt an Gefühlen von Einsamkeit, Unsicherheit, Angst und Entwurzelung, obwohl ihnen die Be-lastung ihrer Eltern durch die Kriegsereignisse erspart blieb.

Als "Verlorenheitsangst" be-zeichnet der Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter dieses diffus depressive Lebensgefühl. Die Lübecker Psychologin und Psychotherapeutin Bettina Alberti, geboren 1960, befasst sich in ihrem Buch "Seelische Trümmer - Geboren in den 50er und 60er Jahren: Die Nachkriegsgeneration im Schatten des Kriegstraumas" mit den Ursachen und lässt Betroffene zu Wort kommen. Alberti stellte fest, dass das kollektive deutsche Kriegstrauma innerhalb der Familien fortwirkt, da es unverarbeitet blieb. Durchweg hätten die Eltern in den 50er und 60er Jahren bei ihren Kindern dieselben rigiden Erziehungsprinzipien angewandt, die sie selbst aus eigener Erfahrung kannten. Schon in der Kriegskindergeneration sei ein sicherer Bindungsaufbau oft gar nicht möglich gewesen, in der nachfolgenden Generation immerhin noch erschwert, erläutert die Autorin.

Dialog und Austausch fanden kaum statt, Erfahrungen von Resonanz und Empathie gab es nur in sehr verkümmerter Form. Für die Nachkommen der Kriegskinder ginge es nun darum, Frieden mit der familiären Vergangenheit und Frieden mit sich selbst zu suchen. Voraussetzung dafür ist das Zulassen von Trauer, was viele Ä„lteren nicht getan haben, weil sie es nicht leisten konnten.

Über die "Erlösung aus kollektiver Verstrickung" mit Blick auf unsere Zeitsituation schreibt Anna Gamma, die Leiterin des Schweizer Lassalle-Instituts in Bad Schönbrunn, in ihrem klugen Nachwort. Ihr seien die Augen geöffnet worden für das Leid im sogenannten "Tätervolk". Der Schmerz wirke noch immer nach, und der Schmerz der "Täter" sei tiefer vergraben als der der Opfer. Selbst die Enkel seien in ihrer Entwicklung von dem kollektiven Schuldgefühl beeinflusst.

Doch der Weg zur Heilung sei freigelegt, auch durch die Arbeit von Therapeuten wie der Autorin des vorliegenden Buches. Gamma spricht den Deutschen eine potenzielle Kernkompetenz in der Weltgemeinschaft zu, wenn sie fähig würden, als Geläuterte wiederum eine führende Rolle zu übernehmen, jedoch im Sinne des Dienens. Die Heilung von Langzeitfolgen habe einen weiter reichenden Aspekt: Angesichts der bedrohlichen globalen sozialen, ökonomischen und ökologischen Situation "braucht es die befreite und erlöste Kraft aller Völker".

Dagmar Jestrzemski

Sonya und Yuri Winterberg: "Kriegskinder - Erinnerungen einer Generation", Piper Verlag, München 2010, broschiert, 253 Seiten, 38 schwarzweiße Abbildungen, 9,95 Euro

Bettina Albert: "Seelische Trümmer - Geboren in den 50er und 60er Jahren: Die Nachkriegsgeneration im Schatten des Kriegstraumas", Kösel-Verlag, München 2010, gebunden, 207 Seiten, 13,99 Euro

Foto: Alltag in Trümmern: Kinder spielen auf den zerstörten Straßen Berlins.


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