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22.01.11 / Früher küsste man anders

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 03-11 vom 22. Januar 2011

Früher küsste man anders
von Willi Wegner

Die Tagesschau hatte gerade angefangen, als Alfi, unser Jüngster, hereinkam, um uns Gute Nacht zu sagen. Er ging zuerst zu meiner Frau und gab ihr einen Kuss. „Puh“, rief er, „dein Lippenstift schmeckt wieder nach Vanille!“

„Unsinn“, erwiderte meine Frau, „das ist Himbeer! So, nun marsch ins Bett und schlaf gut. Aber vorher gehst du noch zu deinem Papa und sagst auch ihm Gute Nacht.“

Alfi kam zu mir und drückte mir die Hand wie einem alten Sports-kameraden. „Bekomme ich keinen Kuß?“ fragte ich. „Ach, du bist immer so stoppelig“, wehrte Alfi ab. „Du solltest dir endlich den neuen Elektrorasierer mit doppelhorizontaler Scherkraft kaufen.“ „Da hast du‘s!“ sagte meine Frau.

Die Tagesschau brachte gerade einen Bericht über eine Art Begrüßungszeremoniell mehrerer Politiker, die sich vielleicht lange Zeit nicht gesehen hatten. Sie umarmten sich innig und rieben ihre Wangen aneinander, dass es aussah als küßten sie sich. Mir fiel ein, dass  mir früher, während meiner Kindheit, diese dauernden Verwandtschaftsküsse mehr als zuwider waren. Mama, Papa, die beiden Omas, die beiden Opas. Tante Frieda, Onkel Albert – alle musste ich abknutschen oder mich von ihnen abknutschen lassen. „Paß auf!“ rief meine Frau und unterbrach meine Gedanken.

„Der Film fängt an!“

Es war die Wiederholung einer Wiederholung eines französischen Spielfilms mit einer Unmenge Kußszenen. Als der Kunstmaler Pierre das Ladenmädchen Yvonne das sechstemal in die Arme nahm und küsste, rief meine Frau: „Nun sieh dir bloß mal an, wie die sich früher geküßt haben! Nur in die Mundwinkel! Heutzutage beißen sie sich in die Lippen, ins Kinn und in den Unterkiefer!“ „Wie die Kannibalen!“ sagte ich.

Fünf nach neun klingelte unser Telefon. Bärbel war am Apparat, unsere Älteste. „Hallo, Paps“, sagte sie, „ich bin vom Büro gar nicht erst nach Hause gekommen, Peter gibt eine Party, weißt du … wir sind nur zu acht, aber es ist sehr lustig.“

„Frag sie, ob sie schon gegessen hat!“ rief meine Frau dazwischen. „Hast du schon gegessen?“ fragte ich.

„Hier gibt es jede Menge mega-irre Sandwiches“, erwiderte Bärbel. „Da verhungere ich bestimmt nicht.“ Dann war es eine Weile still in der Leitung. „Hallo?!“ rief ich. Schließlich meldete sich Bärbel wieder: „Entschuldige, Paps aber Peter hat mich gerade ins Ohrläppchen gebissen.“

Das geht ja noch, dachte ich, das wird so schlimm nicht sein.

Mir fielen jedoch die Worte meiner Frau wieder ein. Sie hatte recht. Manche gebärden sich heute beim Küssen wie die Menschenfresser. Man sieht es immer wieder, in allen möglichen Fernsehspielen, Filmen und sogar in Krimis. Ich hab‘ dich zum Fressen gern nehmen sie glatt wörtlich.

„Frag sie, ob sie bald nach Hause kommt!“ rief meine Frau. „Kommst du bald nach Hause?“ fragte ich unsere Tochter. „Was meinst du, sollen wir warten, dass du uns noch Gute Nacht sagen kannst?“

„Nein, natürlich braucht ihr nicht zu warten“, meinte Bärbel.

„Diese alte Sitte mit den Gutenachtküssen zwischen Eltern und Kindern ist doch wohl inzwischen überholt.“ „Wieso?“

„Ich meine, seit die Eltern keine Lust mehr haben, so lange aufzubleiben, bis die Kinder heimkommen ...“ „Dann gib mir wenigstens einen Gute-nachtkuß durchs Telefon!“ lachte ich.

„Okay!“ lachte Bärbel. zurück. „Dann spür’ ich wenigstens deine Bartstoppeln nicht! Es gibt übrigens einen prima neuen Elektrorasierer mit doppelhorizontaler Scherkraft, von dem in der Fernsehwerbung oft die Rede ist. Den solltest du dir kaufen. Peter benutzt ihn auch!“

Kurz nach elf gingen meine Frau und ich schlafen. Ich hauchte ihr noch einen Kuß in den linken Mundwinkel. Sehr behutsam und taktvoll.

„Wie in den alten Filmwiederholungen“, flüsterte sie „So küsste man früher. Heute küsst man anders.“

Damit schloss sie die Augen und schlummerte selig lächelnd ein.


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