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12.02.11 / Die ostpreußische Familie / Leser helfen Lesern

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 06-11 vom 12. Februar 2011

Die ostpreußische Familie
Leser helfen Lesern
von Ruth Geede

Lewe Landslied,
liebe Familienfreunde,

wir erhalten manchmal Zuschriften, die eigentlich als solche nicht zu bezeichnen sind. Sätze, die nicht zu Ende geschrieben wurden, ein paar hingeworfene Worte, reihenweise Fragezeichen ohne gestellte Fragen, Fragmente, die man nicht erklären kann. Oft liegt es an der Schrift, die nur schwer oder überhaupt nicht zu entziffern ist und die das Unvermögen der Schreibenden, sich verständlich ausdrücken zu können, beweist, auch wenn der Wille dazu spürbar ist. Doch gerade diese Schreiben sind mir wichtig, weil sie bisher abgeblockte Schick­salsfragen aufzeigen, die noch immer unterschwellig vorhanden sind. Diese auf den ersten Blick unverständlichen Schreiben stehen am Beginn eines Weges, der zu unserer Ostpreußischen Familie und damit zu erhofften Antworten führt, aber er ist mühsam. Auch für uns. Und manchmal klappt es auch erst auf den zweiten oder dritten Blick.

Wie im Fall eines Lesers, eines Berliner Architekten – der mir interessante Informationen über Wärmetechnik zusandte, die ich aber leider im fest abgesteckten Themenrahmen unserer Kolumne nicht behandeln kann. Angeheftet an ein kurzes Anschreiben fand ich einen Ausschnitt aus unserer Zeitung, der wie herausgerissen aussah. Ich wollte ihn schon beiseitelegen, da bemerkte ich, dass es sich um die Kopfleiste der Rubrik „Wir gratulieren“ handelte, die im Zickzackmuster wie eine Girlande herausgeschnitten war – das Tulpenmuster verstärkte noch den Eindruck. Beim Auseinanderfalten bemerkte ich dann einige handgeschriebene Notizen: „Das hohe Alter der Ostpreußen – welche Berufe? Konnten sie sich einrichten westlich der Oder? Wer schreibt mal über Euch Ostpreußen?“ Nun, lieber Herr Gernulf Sch., das geschieht ja bei uns laufend, denn gerade für Vertriebenenschicksale bietet unsere Ostpreußische Familie ein breites Forum, viele Fragen sind ohne Schilderung der Lebensläufe der Suchenden und Gesuchten nicht zu übermitteln. Ein gutes Beispiel ist die folgende Suchgeschichte, die Frau Hilde Ruda aus Iserlohn uns vorlegt:

Es handelt sich um eine Königsbergerin, deren Schicksal sie beschäftigt, weil es auch ihre eigene Familie betrifft. Die Gesuchte heißt Frieda Bensch, sie wohnte in der Artilleriestraße in Königsberg und war mit Frau Rudas Bruder, Emil Neth, befreundet. Dieser hatte einen Sohn, den damals sechs Jahre alten Gerhard. Soweit ich dem Schreiben von Frau Ruda entnehmen kann, hat Frau Bensch den Jungen mit auf die Flucht genommen. Sie haben wohl gemeinsam Königsberg verlassen, vermutlich über See, denn Frau Bensch wollte nach Dänemark. Die leibliche Mutter des kleinen Gerhard war Meta Neth geborene Pieraks, sie stammte aus Goldap. Der Vater Emil Neth ist wahrscheinlich in Lettland verstorben, Die Familie wurde auseinander gerissen und hat sich erst nach und nach gefunden, manche Verbindung kam nicht mehr zustande. Bleiben wir zuerst bei der Schreiberin, Hilde Ruda, geborene Neth. Sie verließ während des Krieges ihre Heimat Ostpreußen, den Unterschriften der beigelegten Fotos nach stammte wohl die mütterliche Familie aus Kaddig, Kreis Sensburg. Als 15-Jährige kam Hilde Neth 1942 in das Rheinland und arbeitete in einer Fabrik. Der Abschied von der Heimat muss ihr sehr schwer gefallen sein, denn sie schreibt über den Aufenthalt im Rheinland: „… da, wo die Bomben fielen, und ich wohnte bei fremden Menschen“. 1944 wurde sie als Flakhelferin verpflichtet und kam mit anderen Mädchen nach Gleiwitz. Von dort mussten sie 1943 fliehen und fanden Unterkunft in einer Kaserne in Stralsund. Als die Russen kamen, flohen die Mädchen zusammen mit den Soldaten nach Westen, wo sie in Remberg das Kriegsende erlebten. Als Jugendliche wurden sie von den Engländern entlassen und kamen in ein Frauenwohnheim. Aber wo waren ihre Angehörigen? Erst nach vier Jahren erfuhr Hilde, dass ihre Mutter noch lebte. Sie wohnte in Kaddig zusammen mit ihrem jüngsten Sohn. Ein älterer Bruder, Fritz, war in englische Gefangenschaft geraten und wurde 1948 entlassen. Vom Vater Hermann Neth, der aus Lauk, Kreis Heiligenbeil stammte, wussten sie nichts. Erst viel später erfuhren sie, dass es ihm gelungen war, nach Westdeutschland zu kommen. Er verstarb aber bereits 1948 in Bramsche. Zu der Mutter des kleinen Gerhard hatten sie wohl keine Beziehung. Meta Neth ist geflüchtet, denn sie soll nach dem Krieg in Wanne-Eickel gewohnt und erneut geheiratet haben. Frau Hilde Ruda hat ebenfalls geheiratet, ihr Mann stammte wohl auch aus Ostpreußen, denn sie schreibt, dass sie jahrelang in „unsere Heimat“ gefahren sind, bis er vor drei Jahren verstarb. Ja, nun sucht die 85-Jährige nach Frieda Bensch, zu der sie wohl ein gutes Verhältnis gehabt hat, weil sie ein Bild von „Friedel“ noch immer besitzt. Ich glaube, diese Familiengeschichte, die noch immer nicht beendet ist, kann durchaus die Kriterien erfüllen, die Herr Gernulf Sch. gefordert hat. (Hilde Ruda, Am Steinhügel 67 in 58636 Iserlohn.)

Das Schreiben von Frau Simone Gerlach aus Schwerin möchte ich ohne nähere Erläuterung bringen. Sie trägt ihr Anliegen sehr emotional vor, wägt dabei Hoffnung und Zweifel ab und hält sich präzise an die Fakten, so dass jedes erklärende oder vermittelnde Wort überflüssig ist. Und sie wendet sich direkt an unsere „liebe ostpreußische Familie“ – die soll es nun lesen: „Hanebüchene Geschichten über meinen Vater geisterten von jeher durch meine Familie, jedoch hatte nie jemand den Antrieb, weitere Nachforschungen anzustellen. Auch mein Vater versteck­te sich lieber hinter der Geschichte vom „Findelkind mit Schild um den Hals“, und sogar ich selbst glaubte nicht daran, dass ich jemals Licht in das Dunkel bringen würde. Aber, liebe Frau Geede, liebe Ostpreußische Familie: Es nagt an mir. Hundertmal habe ich die Gedanken zur Seite gelegt, weg geschoben und die Sache als hoffnungslos erklärt. Doch seit einem Brief vom Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes (DRK) begegnet mir Ostpreußen überall. Sei es die Nachbarin, die als Kind aus Königsberg fliehen musste, oder die Kollegin, deren Großeltern aus Braunsberg vertrieben wurden. Es verfolgt mich. Warum ich selber die Angelegenheit für hoffnungslos halte? Nun ja, die Angaben sind mehr als spärlich. Mein Vater, Franz Gerlach, kam zu unbekannter Zeit mit einem Transport über Königsberg nach Grimmen in ein Auffanglager. Im März 1946 kam er in ein Krankenhaus in der Nähe von Bernburg und kurz darauf in ein Bernburger Kinderheim. Eltern und Geburtsort sind unbekannt. Das Geburtsjahr wurde auf Anfang 1945 geschätzt.

Ich gehe davon aus, dass zwischen der Ankunft in Grimmen und der Einweisung in das Krankenhaus nicht allzu viel Zeit lag, der Transport müsste deshalb zwischen Januar und März 1946 erfolgt sein. Dann wäre es also ein geregelter Transport, vielleicht ein Kindertransport? Mich würde es interessieren, ob es hierüber noch Listen gibt. Wenn der Name meines Vaters auf einer der Listen eingetragen ist, könnte man nachvollziehen, aus welchem Kreis der Zug kam. Vielleicht war mein Vater aber auch schon vor dem Transport in einem Krankenhaus oder Kinderheim in Ostpreußen. Er war doch sehr klein und jemand müsste sich um ihn gekümmert haben. Der Gedanke, dass es sich um einen geregelten Transport handelt, gibt dem Fall doch einen Hoffnungsschimmer. Vielleicht hält die tatkräftige Ostpreußische Familie ein paar Informationen bereit, die mir weiter helfen könnten.“ (Simone Gerlach, Plöner Straße 2 in 19057 Schwerin, E-Mail: simonegerlach1@aol.de)

Je weiter die Zeit fortschreitet, desto wichtiger ist jede Meldung von ehemaligen Weggefährten aus der Heimat, denn nur sie verfügen noch über erlebte oder überlieferte Kenntnisse und können so für manche Suchenden deren Kindheit oder Jugendzeit wenigstens teilweise erhellen. Das hatte auch Frau Kirstin Laurick für ihre aus Dietrichsdorf stammende Großmutter gehofft, die ein altes Suchbild fand, auf dem ihr Vater, Lehrer Erich Gensch, mit seiner Schulklasse abgebildet ist. Wir hatten die Suchfrage in Folge 3 veröffentlicht – und die Antwort kam prompt, leider nicht von der gesuchten Frau Martha Braun, die das Klassenfoto im Jahr 1982 an das Ostpreußenblatt gesandt hatte: Sie ist vor eineinhalb Jahren verstorben. Ihr richtiger Name lautete Martha Brauns geborene Gortat, und sie war ihrer masurischen Heimat immer verbunden geblieben, denn bis zu ihrem Tod am 14. August 2009 gehörte sie der Kreisgemeinschaft Neidenburg an. Dieses teilte uns Herr Reinhard Kayss von der Auskunftsstelle Kreis Neidenburg mit. Die 1918 geborene Martha Brauns wohnte in Kempten. Sie hätte sich wohl sehr über die Nachricht gefreut, dass die Tochter ihres Lehrers sich gemeldet hatte und mit ihr Verbindung aufnehmen wollte. Dass diese nun nicht mehr zustande kommt, bedauert Herr Kayss sehr, aber er steht für weitere Informationen über Dietrichsdorf und seine früheren wie auch jetzigen Bewohner zur Verfügung, da er im Beirat für Familienforschung in der Kreisgemeinschaft Neidenburg ist. Kaum hatten wir dies der Enkelin der Suchenden mitgeteilt, kam eine weitere Zuschrift, die sogar aus dem Kreis der Verwandtschaft kommt und auch den Namen der Gesuchten trägt. Frau Ursula Brauns aus Hamburg schreibt: „Die Familie meines Mannes Werner Brauns wohnte bis 1945 in Kniprode, einem Nachbarort von Dietrichsdorf. Aus Erzählungen weiß ich, dass ein Cousin von ihm, Max Brauns, aus Dietrichsdorf mit einer Martha, geborene Gortat verheiratet war. Laut Neidenburger Heimatbrief ist Martha Brauns am 14. August 2009 im Alter von 90 Jahren verstorben. Leider weiß ich nicht, ob es die richtige Person ist. Sie könnte es aber sein“. Sie ist es auch, wenn man die Zuschriften vergleicht. Ob noch nähere Verwandte der Verstorbenen leben, weiß Frau Ursula Brauns nicht, aber es dürften jetzt weitere Meldungen zu erwarten sein. Auch von der wohl überraschten Großmutter von Frau Kirstin Laurick, zu der wir bisher keine direkte Verbindung haben – die Enkelin stellt federführend für sie die Suchfrage, die wir nun noch mit einer neuen Information erweitern können: Der Hauptgrund für die Suche von Frau Lauricks Großmutter nach ehemaligen Diet­richsdorfern liegt in der Unwissenheit über den Tod ihres Vaters Erich Gensch, Die Tochter konnte bisher nie erfahren, wie dessen Leben ab Januar 1945 verlief. Zum letzten Mal hatten sie sich beim Abschied auf dem Bahnhof gesehen, wo der Vater seine Familie in den letzten Zug setzte, der Russe stand bereits vor der Türe. Erich Gensch blieb in Dietrichsdorf zurück. Wer von den flüchtenden Bewohnern war ebenfalls in diesem letzten Flüchtlingszug? Wer war damals mit Erich Gensch zusammen und kann sich erinnern, ob der Lehrer in Gefangenschaft geriet oder wann und wo er verstarb? Die heute 87-jährige Tochter möchte endlich Klarheit über das Schicksal ihres Vaters haben, vielleicht finden sich doch noch einige Teilchen für dieses Mosaik, das bisher nur aus einigen Bruchstücken besteht?

Eure Ruth Geede


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