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19.02.11 / Auch im Osten ist Europa / Entdeckungsreise in unbekannte Regionen entlang der Memel

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 07-11 vom 19. Februar 2011

Auch im Osten ist Europa
Entdeckungsreise in unbekannte Regionen entlang der Memel

Unter „europäischen Strömen“ stellt man sich gemeinhin sehr lange und zahlreiche Nationen berührende Flüsse wie den Rhein oder die Donau vor. In der Tat kann man aber unter diesem Gesichtspunkt auch von der Memel sprechen. Heute sind es Russen,  Weißrussen und Litauer, die entlang des Flusses wohnen, in den vergangenen Jahrhunderten waren es aber auch Polen, Deutsche darunter zahlreiche Juden, die Geschicke und Geschichte des Flusses und der Region prägten.

Jedes Volk gab dem Fluss einen anderen Namen: Für die Deutschen war es die Memel oder – mit Blick auf Ober- und Mittellauf – der Njemen; die Polen nennen den Fluss Niemen, die Litauer Nemunas, die Russen Neman und die Weißrussen Njoman (zärtlich „Väterchen Njoman“). Was man im Westen Europas gar nicht so richtig weiß, was aber schon angesichts der unterschiedlichen Namensgebung zwangsläufig ins Auge springt, ist die Tatsache, dass sich hier ein ungemein vielfältiges politisches und kulturelles Geschehen abgespielt hat, das man der bewegten Geschichte etwa am Rhein durchaus an die Seite stellen kann.

Der in Berlin als Journalist arbeitende Autor Uwe Rada ist vor zwei Jahren mit einem schönen Buch über die Oder bekannt geworden. Sein jetziges Buch „Die Memel – Kulturgeschichte eines europäischen Stroms“ über die Memel ist erneut ein großer Wurf. Rada lässt sich von der Vielfalt der Ereignisse, der Personen, der Natur und den großartigen Städten und Burgen animieren und nimmt den Leser mit auf eine wahrhaft spannende Reise entlang des Flusses. Dieser ist nicht sonderlich lang, gerade rund 940 Kilometer. Davon entfallen etwa 470 Kilometer auf weißrussisches, 350 Kilometer auf litauisches Gebiet. Auf etwa 110 Kilometern Länge ist er der Grenzfluss zwischen Litauen und dem Königsberger Gebiet.

Rada geht weit in die Geschichte zurück, erzählt vom litauisch-polnisches Großreich, das auf seinem Höhepunkt bis zum Schwarzen Meer reichte, von den polnischen Teilungen, nach denen man nur noch das zaristische Russland und Preußen als Staaten in der Region sah. Nach dem Ersten Weltkrieg rückte die Armee des neuen polnischen Staates weit über den Fluss vor und besetzte die litauische Hauptstadt Wilna, weshalb Kaunas, am Fluss gelegen, provisorische Hauptstadt wurde. Nach 1945, als Polens Grenze nach Westen gerückt wurde, war die Region sowjetisch. Heute ist die polnische und litauische Grenze gegenüber Weißrussland die EU-Außengrenze.

Angesichts der ständigen Kämpfe und Grenzverschiebungen gab es Animositäten und Nationalitätenkonflikte, zugleich aber viel Gemeinsames. Wie an allen Flüssen verband auch hier der Handel die Völker. An der Memel war es das Holz, das Holz aus den gleichsam zum Mythos gewordenen „Urwäldern“ in Litauen und aus Weißrussland, das zu einer Wirtschaftsblüte aller Anrainer führte. Die gewaltigen Stämme wurden in Flößen  an den Unterlauf geschifft; sie landeten meist in Tilsit und – nach dem Bau der Kanäle Alter und Neuer Friedrichsgraben –  in der Stadt Memel und in Königsberg, wo große Fabriken das begehrte Holz für den Export in viele Länder Europas verarbeiteten.

Die Geschichte der Memel ist auch ein Kulturgeschichte. Große polnische Dichter wie Mickiewicz, Milosz oder Eliza Orzeszkowa haben ein weit über alles Nationale hinausgehendes Gemeinschaftsgefühl ebenso geprägt wie die Deutschen Sudermann, Agnes Miegel oder Johannes Bobrowski. Sie sind es, deren Namen bei allen Eigenheiten heute für ein Mitteleuropa stehen, das zu Recht beansprucht, als  gleichwertiger Teil Europas gesehen zu werden.

Heute, 20 Jahre nach der friedlichen Revolution, lautet die große Frage: Findet die Region wieder zusammen. Rada besuchte auf einer seiner zahlreichen Reisen, durch die das Buch so anschaulich geworden ist (angesichts der vielen Orts- und Personennamen leider ohne Register!), den polnischen Autor Krysztof Czyzewski, der die Entwicklung positiv sieht: „Grenzen sind temporäre Grenzen. Früher oder später bringt uns der Fluss wieder zusammen. Gemessen an dem, was dieser Fluss erlebt hat ist die Gegenwart doch nur Oberfläche. Im Grunde gehören wir hier alle zusammen.“ Das macht Hoffnung.     Dirk Klose

Uwe Rada: „Die Memel – Kulturgeschichte eines europäischen Stroms“, Siedler Verlag, München 2010, 368 Seiten, 19,95 Euro


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