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05.03.11 / »Wenn die Atemschaukel stockt« / Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen: Literatur-Symposium zu Gulag-Erfahrungen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 09-11 vom 05. März 2011

»Wenn die Atemschaukel stockt«
Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen: Literatur-Symposium zu Gulag-Erfahrungen

Ähnlich wie Herta Müller in ihrer „Atemschaukel“ dem Leser einiges zumutet, forderte das jüngste Literaturwissenschaftliche Symposium der Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen die volle Aufmerksamkeit des Publikums. Die Thematik des Seminars im Christkönigshaus in Stuttgart-Hohenheim war gut gewählt: „Bis hin zum Gulag? Bestehen und Versagen deutschsprachiger Autoren des Ostens gegenüber den Herausforderungen des Totalitarismus“. Die Verleihung des Literatur-Nobelpreises an die Banater Schwäbin Herta Müller im Oktober 2009 bildete ebenso einen öffentlichkeitswirksamen Hintergrund wie die im Herbst letzten Jahres bekannt gewordenen Securitate-Verstrickungen des Lyrikers Oskar Pastior, dessen persönliche Aufzeichnungen aus dem Alltag der 60000 rumäniendeutschen Zwangsarbeiter in der Sowjetunion der „Atemschaukel“ als Vorlage dienten.

Prof. Dr. Karol Sauerland, in der DDR aufgewachsener Sohn deutsch-jüdischer Emigranten und Leiter der Abteilung für Literaturwissenschaft an der Warschauer Universität, führte in die Thematik ein. Dabei zitierte der seinerzeitige Chefredakteur der polnischen Untergrundzeitschrift „Europa“ aus einem 1988 dort veröffentlichten Interview mit dem Gulag-Insassen Horst Bienek, in dem der oberschlesische Schriftsteller prophezeite: „Ich bin überzeugt, dass es einst in Workuta ein Museum geben wird, so wie es eines in Auschwitz gibt.“

Das Stadtmuseum Workuta erinnert heute zwar auch an die stalinistische „Vernichtung durch Arbeit“, doch die allgemeine Bewusstmachung dieser Massenverbrechen hat längst nicht den Stellenwert wie die der Verbrechen der NS-Rassenideologie.

Nachdem der erste Seminartag mit einem Konzert des Malinconia-Ensembles Stuttgart unter dem Motto „Nun sind die Tage grau und düster geworden – Komponisten des Ostens in Zeiten der Bewährung“ klassisch-melancholisch ausgeklungen war, begann der Sonntag mit Ausführungen Dr. Jörg Bernhard Bilkes über „Vergewaltigungen durch die Rote Armee? – Wie Boris Djacenko mundtot gemacht wurde“, dann folgten Ingmar Brantschs Gedankengänge zum Thema „Unter Larven die einzig fühlende Brust – Eginald Schlattner und die Möglichkeiten des Widerstandes in einer Diktatur“ sowie Stefan Tepperts Ausführungen über den „Genozid in Titos Jugoslawien – Johannes Weidenheims Roman Treffpunkt jenseits der Schuld“.

Am Schluss des Hohenheimer Symposiums stand, wie hätte es anders sein können, die Auseinandersetzung mit der rumäniendeutschen Nobelpreisträgerin Herta Müller. Georg Aescht, Chefredakteur der von der Stiftung deutsche Kultur im östlichen Europa herausgegebenen Kulturpolitischen Korrespondenz, referierte über „Wenn die Atemschaukel stockt – Herta Müllers stetes episches Ringen mit der Sprachlosigkeit vor der erlebten Geschichte“. Mit einer dem Thema angemessenen Sprachkraft begründete der Siebenbürger Aescht seine Wertschätzung der Autorin, in deren Werken es „immer um alles“ gehe und die deshalb heute als „totale Schriftstellerpersönlichkeit“ nicht ihresgleichen finde.

Mit Herta Müller spreche eine Geschädigte des Ceausescu-Sys-tems zu uns, deren Erfahrungen zum Erkenntnismittel auch für andere Totalitarismus-Schilderungen wurden, allen voran den in der Atemschaukel dargestellten Sowjetarbeitslagern für die Rumäniendeutschen. Aescht betonte, dass sogar bei seinem alles andere als literaturerfahrenen Vater, der selbst fünf Jahre als Zwangsarbeiter schuften musste, die „Wortgewalt“ Müllers Eindruck machte. Trotz des Fehlens klarer Handlungsstränge las und verstand er die „Atemschaukel“ und wurde von meisterhaften Bildern wie dem „Hungerengel“ ebenso gebannt wie Millionen anderer Leser. Die Prosa Herta Müllers tauge zwar nicht für den modernen Fernsehkonsumenten, so das Fazit des Referenten, sei aber wie ihr ganzes Werk „wahrer als die genauesten dokumentarischen Aufzeichnungen“.     Martin Schmidt

Kontakt: Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen, Kaiserstr. 113, 53113 Bonn, Tel.: 0228-915120, kulturstiftung@t-online.de, www.kulturstiftung-der-deutschen-vertriebenen.de


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