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07.05.11 / Viele Gemeinsamkeiten, gestörte Vielfalt / Politik-Beraterin und Balkan-Expertin über die Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 18-11 vom 07. Mai 2011

Viele Gemeinsamkeiten, gestörte Vielfalt
Politik-Beraterin und Balkan-Expertin über die Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert

Marie-Janine Calic steht in der ersten Reihe der deutschen Südost-europaforschung und hat ihr Fach in denkbarer Vielfalt professionalisiert: Sie arbeitete in Forschungsinstituten, war Beraterin für Balkan-Politiker von UN und EU, Gutachterin internationaler Gerichtshöfe und ist seit 2004 Professorin für ost- und südosteuropäische Geschichte an der Universität München. Von dieser hat sie sich anderthalb Jahre beurlauben lassen, um ihre jetzt vorliegende Geschichte Jugoslawiens zu verfassen.

Das Grundproblem jeder Beschäftigung mit Südosteuropa ist die Gewichtung von ethnischer Einheit in politischer Vielfalt: Sind die dortigen Volksgruppen wirklich so verschieden, wie ihre älteren und jüngeren Staatsgründungen suggerieren? Sie waren sozioökonomische „Spätentwickler“, die laut Calic im Zusammenhalt ihre einzige Chance hatten: „Zunehmender internationaler Wettbewerb und aggressiver Imperialismus machten die Überwindung der Rückständigkeit buchstäblich zu einer Überlebensfrage. Vor diesem Hintergrund konkretisierte die südslawische Idee, das Projekt einer gemeinsamen politischen Zukunft von kulturell verwandten Völkern.“

Gute 700 Jahre haben die Südslawen ihre „Verwandtschaft“ über alle politischen, konfessionellen Gräben hinweg bewahrt, worauf Calic nur obenhin eingeht. Akribisch widmet sie sich dem 20. Jahrhundert, in welchem sich die Verwandtschaft gesamtstaatlich zu vollenden schien. Als Auslöser nimmt die Autorin die „drei Bal-kankriege“, rechnet also den Ersten Weltkrieg als dritten Balkankrieg. Das ist ungewöhnlich, aber einsehbar: Der Krieg begann gegen Serbien und endete mit der Niederlage und staatlichen Liquidation des österreichisch-ungarischen Aggressors. Auf der Siegerseite stand Serbien, dem Habsburgs slawische Untertanen dankbar zuströmten: „Jugoslawien war keineswegs ein von macchiavellis-tischen Großmachtinteressen diktierter künstlicher Retortenstaat ... Der neue Staat startete mit immensen euphorischen Zukunftshoffnungen.“

Für das neue „Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen“, ab 1929 „Jugoslawien“, war es „zu spät, die unterschiedlichen Identitäten auf ein gemeinsames Jugoslawentum umzupolen“. Warum eigentlich? „Jugoslawien bot einen sicheren Schutzschirm vor den ausgreifenden Territorialforderungen“ der Siegermächte und darum war damals kein Volk „gegen die Vereinnahmung durch Jugoslawien“. Aber diese Euphorie verkehrte sich bald in ihr Gegenteil, ethnisch-politische Zwistigkeiten, besonders zwischen Serben und Kroaten, trieben Jugoslawien in den Krieg. Der von Italien und Deutschland geführte „Feldzug“ war kurz und unblutig, aber ihm folgten über vier Jahre grausamster Partisanenkrieg. Bis Ende 1944 bekamen die Partisanen von keiner Seite Hilfe, schon gar nicht von Stalin, und sie ließen sich von niemandem in ihre Politik hineinreden.

Jugoslawien war mit unglaublichen Kriegsfolgen konfrontiert – über eine Million Tote, 3,5 Millionen Obdachlose, 289000 bäuerliche Wirtschaften zerstört etc. Der „Kommunist“ Tito überwarf sich bereits 1948 restlos mit Stalin und wurde folglich vom Westen großzügig unterstützt. „Politisch entpuppte sich der Konflikt mit Stalin für das Regime Titos als Segen“, denn Jugoslawien wurde zum „Scharnier“ zwischen den Blöcken, das beide Seiten mit riesigen Krediten „ölten“. Im Lande entwickelte sich eine ganz „unkommunistische“ Liberalität, bereits 1971 lebten 775000 Gastarbeiter im Ausland, die meisten in Deutschland. Nach Jugoslawien kamen alljährlich Millionen Touristen, die dem Land gute Deviseneinnahmen sicherten. Und die Menschen legten sich eine „Doppelidentität und -loyalität“ zu, „als Bürger gegenüber dem jugoslawischen Staat und zugleich als Volksangehörige zu ihrer jeweiligen nationalen Großgruppe“, womit das alte Erbübel ethnischer Konflikte ausgeräumt erschien.

Tito starb am 4. Mai 1980, einen Nachfolger gab es nicht. Arbeitslosigkeit, Krise und Inflation kamen anstelle der alten Sorglosigkeit. Im Kosovo brachen bürgerkriegsähnliche Unruhen aus, die Belgrad massiv unterdrückte – mit Zustimmung aller jugoslawischen Teilrepubliken. Slowenien und Kroatien erklärten im Juni 1991 ihr Ausscheiden aus der jugoslawischen Föderation und mussten sich gegen die angreifende „Jugoslawische Volksarmee“ wehren. So begann der jugoslawische Bürgerkrieg, der bis 1995 dauerte und an diversen Schauplätzen ablief. Calic verbirgt ihre Abneigung gegen die Kriegsparteien nicht, auch nicht ihren Zorn auf täppische Bonner Vermittlungsversuche, die den Krieg förderten und die Partner Deutschlands „düpierten“.

Seit über einem Jahrzehnt ist der Krieg vorüber, aber alte Feindbilder sind noch lebendig. Mitunter kommt „Titostalgie“ (Calic) auf, das heißt Sehnsucht „nach einer Zeit des Friedens und eines geeinten, offenen und toleranten Landes“, die freilich auch strafbar sein kann. Die kroatische Verfassung verbietet in Artikel 141 „die Vereinigung zur Erneuerung der jugoslawischen staatlichen Gemeinschaft“.        Wolf Oschlies

Marie-Janine Calic: „Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert“, Verlag C.H. Beck, München 2010, gebunden, 415 Seiten, 26,95 Euro


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