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04.06.11 / Therapeuten mit Kamm und Schere / Friseure wissen oft viel mehr über den Kunden als der Ehepartner – Vornehmlich ältere Kunden klagen ihnen ihr Leid

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 22-11 vom 04. Juni 2011

Therapeuten mit Kamm und Schere
Friseure wissen oft viel mehr über den Kunden als der Ehepartner – Vornehmlich ältere Kunden klagen ihnen ihr Leid

Noch bevor der Ehemann erfährt, dass seine Frau sich scheiden lassen will, weiß es oft schon der Friseur. Bei Liebeskummer, beruflichen Schwierigkeiten oder anderen Problemen sind sie fast immer involviert, die Therapeuten mit Kamm und Schere.

Martina Heel kennt von vielen ihrer Kunden die persönlichen Sorgen, hört zu, muntert auf. Die Friseurin färbt, legt und schneidet seit mehr als 35 Jahren Haare. Im vorletzten Jahr übernahm sie einen Salon im Hamburger Stadtteil Winterhude. 70 Stammkunden hat sie hier mittlerweile. „Pro Tag sind es immer so zehn Leute, die zu mir kommen“, sagt die 48-Jährige. „Man erfährt sehr viel aus dem Leben der Kunden, während man schneidet oder wickelt.“ Jedoch redet Heel nicht darüber. „Diese Geheimnisse bleiben im Salon“, sagt sie. Auf die Frage, ob es wahr ist, dass der Friseur oft mehr weiß als der eigene Partner oder die eigene Partnerin, antwortet sie: „Ja, das stimmt“, und lacht dabei.

Schweigepflicht gilt auch für Angelika Dietz, die mit im „Salon Heel“ arbeitet: „Ich weiß zum Beispiel, welcher Ehemann nie aufräumt“, sagt die 57-Jährige. Über Themen wie Geld und Partnerschaft unterhält sie sich aber nur mit Kunden, die sie schon lange kennt. Mit denen, die sie das erste Mal vor sich sitzen hat, spricht sie „über banale Dinge wie Urlaub und das Wetter“.

Die Gesellschaft für Konsumforschung ermittelte, dass knapp 80 Prozent aller Kunden ihrem Salon treu sind. Manfred Schmidt ist einer von ihnen: „Der Friseur muss für jeden Kunden den individuellen Stil finden“, sagt er, „er muss auf ihn eingehen können.“ Wenn er im „Salon Heel“ Platz nimmt, unterhält er sich gerne über aktuelle Themen. „Ich finde es gut, wenn ich mich über die Finanzkrise oder die Sportergebnisse austauschen kann.“

Insbesondere zu ihren älteren Kunden haben Friseure ein sehr persönliches Verhältnis. Oftmals erzählen die ihrem Friseur, was nicht einmal die Ehepartner oder engsten Familienmitglieder erfahren. Welche Dinge dem Friseur tatsächlich anvertraut werden und wie eng deren Verhältnis zu ihren Kunden ist, haben jetzt amerikanische Forscher untersucht. Hierzu befragten sie die Inhaber und Mitarbeiter von 40 Friseursalons aus der Umgebung der Universitätsstadt Columbus. Es zeigte sich, dass viele Kunden in der Altersgruppe über 60 Jahre ihren Friseur wie einen nahestehenden Menschen betrachten. Mehr als 80 Prozent der Befragten gaben an, dass ihre älteren Kunden ihnen tatsächlich sehr persönliche Probleme offenbaren und 85 Prozent der Befragten meinten, dass ihr Verhältnis zu den Kunden „eng“ oder „sehr eng“ sei. Die Familie und Gesundheitsthemen waren nach Auskunft der Befragten die vorherrschenden Themen der alten Menschen.

„Der Friseur hat den großen Vorteil, bemerken zu können, wenn seine älteren Kunden beginnen, an Depressionen oder Demenz zu leiden, oder sich selbst stark vernachlässigen“, sagt Keith Anderson von der Ohio State University. „Ohne allzu viel jenseits von deren Arbeitsfeld erwarten zu wollen, könnten wir ihnen dennoch zeigen, wie sie mit älteren Menschen sprechen sollten, wenn diese die Hilfe von sozialen Diensten in Anspruch nehmen müssten“, meint Anderson.

Etwa die Hälfte der Befragten gab an, gerne an einem Lehrgang teilnehmen zu wollen, der sie mit den verschiedenen psychosozialen Einrichtungen und Therapiemöglichkeiten vertraut machen würde. So könnten sie Kunden, die offensichtlich Hilfe benötigen, an solche Einrichtungen verweisen.

Die Idee kommt auch im „Salon Heel“ an. Die Inhaberin weiß um die manchmal desolate psychische Situation der älteren Leute, die zu ihr kommen, insbesondere die der Alleinstehenden: „Mir fällt immer häufiger auf, dass diejenigen, die keinen Partner mehr haben, unter ihrer Einsamkeit leiden. Die Kinder sind oftmals weit weg und können sich nicht kümmern, Freunde oder Verwandte sind teilweise auch nicht mehr so fit. Wem soll denn da auffallen, wenn die älteren Menschen Hilfe brauchen?“, meint sie.

Heel selbst bezeichnet sich als eine „leidenschaftliche Friseurin“, die in ihrem Beruf aufgeht. Dass sie jetzt auch immer mehr soziale Funktion hat, macht die Tätigkeit um einiges interessanter, aber auch schwieriger: „Man muss aufpassen, dass man nicht zu viel mit nach Hause nimmt, wenn man jemanden lange kennt und ein persönliches Verhältnis aufgebaut hat“, gibt sie zu bedenken. Die Idee, die derzeit in Ohio verfolgt wird, findet sie gut. Und auch Mitarbeiterin Dietz kann sich vorstellen, entsprechende Hilfestellung zu geben: „Wenn ich weiß, wohin man sich mit bestimmten Problemen wenden kann, gebe ich das gerne an die Kunden weiter.“ Dennoch immer für ihre Kunden ein offenes Ohr zu haben ist für sie selbstverständlich: „Wir sind Therapeuten mit Kamm und Schere“, sagt sie augenzwinkernd. Corinna Weinert

Foto: Im Friseursalon: Mehr als nur verwöhnen lassen


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