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04.06.11 / War es ein Mord? / Briefe an die tote Schwester enthüllen Wahrheit

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 22-11 vom 04. Juni 2011

War es ein Mord?
Briefe an die tote Schwester enthüllen Wahrheit

Der Tod eines geliebten Menschen ist an sich schon fürchterlich, doch wenn dieser sich auch noch umgebracht haben soll, dann kommen zumeist noch Schuldgefühle hinzu. So auch in dem einfühlsamen Roman „Liebste Tess“ aus der Feder der englischen Drehbuchautorin Rosamund Lupton. Mit Schuldgefühlen tun jedenfalls alle Beteiligten die Bedenken der 26-jährigen Schwester der mit aufgeschnittenen Pulsadern im Hyde Park aufgefundenen Tess ab. Schuldgefühle seien es, die sie daran hindern würden, den Tod ihrer Schwester als Selbstmord zu akzeptieren, entgegnen alle, wenn Beatrice auf Merkwürdigkeiten am angeb­li­chen Suizid ihrer Schwester hinweist.

Immer wieder hat auch der Leser Zweifel an Beatrice’ Mordtheorien, denn der Roman ist als Brief an die tote Schwester verfasst. So ganz scheint die New Yorker Karrierefrau den plötzlichen Tod ihrer jüngeren Schwester nicht verkraftet zu haben, da sie in dem Brief an die Schwester so tut, als wäre diese da und könnte ihr zuhören. Rosamund Lupton nutzt die Briefform geschickt, um die enge Beziehung der Schwestern, die schon als Kind der frühe Tod des achtjährigen Bruders zusammengeschweißt hat, zu verdeutlichen. Gleichzeitig bleibt der Leser auch auf Distanz zu Bea­trice, denn schließlich ist ihr Brief an die tote Schwester auch ein Zeichen ihrer mangelnden Objektivität. Da der Leser aber nur Beatrice’ Berichte hat, um zu erfahren, was mit Tess geschehen ist, gerät er somit in einen Zwiespalt: Soll er Beatrice nun glauben oder ihrem zweifelnden Umfeld, von dem diese ihrer Schwester immer wieder berichtet?

Der Brief beginnt mit der Schilderung über eine Journalistenmeute vor Tess’ Londoner Studentenwohnung. Beatrice berichtet Tess, wie jetzt endlich allen klar wurde, dass sie keine Spinnerin sei, da der Mörder gefasst wurde. Doch Beatrice rückt nicht mit weiteren Informationen zum Mörder heraus, sondern berichtet ihrer Schwester, wie sie von da an Tag für Tag zur Polizei zur Vernehmung fährt und Stück für Stück einem Mister Wright die Geschichte chronologisch für den Prozess zu Protokoll gibt.

So erfährt der Leser auch, dass Tess durchaus Gründe für einen Selbstmord hatte: Die von ihrem verheirateten Dozenten schwangere Kunststudentin hat das nach einer Gentherapie von der in der Familie grassierenden Erbkrankheit Mukoviszidose, an der auch der Bruder starb, geheilte Baby gleich nach der Geburt verloren. Doch Beatrice ist überzeugt, dass ihre katholische, lebenslustige Schwester selbst im Falle von Depressionen nie ihrem Leben ein Ende gesetzt haben würde. Und da Beatrice gleich mehrere Mordverdächtige hat, folgt man ihrer spannenden Mördersuche, zumal ja offenbar ein Täter überführt wurde.

„Tess, ich würde alles tun für eine zweite Chance. Doch anders als in unseren Märchenbüchern kann man nicht zurückfliegen, … Du hast dich an mich gewandt, und ich war nicht da. Du bist tot. Wenn ich deinen Anruf entgegengenommen hätte, wärst Du noch am Leben. So einfach ist das“, heißt es in der Mitte des Buches und der Leser weiß von da an, dass Beatrice zwar wirklich unter Schuldgefühlen leidet, aber durchaus den Tod der Schwester realisiert hat.

Doch den wahren Mörder ihrer Schwester erkennt sie zu spät. Und hier zeigt sich die Raffinesse der Autorin, die den Leser lange auf die falsche Fährte gelockt hat: Der in Gedanken an Tess formulierte Brief ist Beatrice’ einziges Mittel, um zu überleben.                   

Rebecca Bellano

Rosamund Lupton: „Liebste Tess“, Hoffmann und Campe, Hamburg 2010, gebunden, 383 Seiten, 19,95 Euro


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