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18.06.11 / Unfähig zu trauern

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 24-11 vom 18. Juni 2011

Unfähig zu trauern
von Theo Maass

Wurden wir in Deutschland am 8. Mai 1945 wirklich alle befreit oder nicht? Theodor Heuss hatte gemeint: „Sowohl als auch“. Und wer im KZ saß, der wurde gewiss befreit. Doch wie sah das Kriegsende für die „Normalbevölkerung“, etwa im Berliner Vorort Zehlendorf, aus? Am Pfingstwochenende ging ich dieser Frage auf dem dortigen Onkel-Tom-Friedhof nach. Hier liegen meine Eltern begraben und am „Vatertag“ hielt ich es für angemessen, mein liebes Väterchen zu besuchen und an seinem Ehrentag mit ihm stille Zwiesprache zu halten.

Der Rückweg führte mich über das Gräberfeld der Kriegstoten. Schlichte kleine Steinplatten künden von Namen, Geburts- und Todestagen. In Lazaretten und Krankenhäusern verstorbene Soldaten fanden dort ihre letzte Ruhe. Ab dem 24. April 1945 steigt die Zahl der kleinen Steinplatten stark an. Ich lese die Namen und bin erstaunt. Viele Frauen – vom Lebensalter 15 bis 75 ist alles vertreten. Die männlichen Toten wurden meist zwischen 15 und 17 und 50 bis 70 Jahre alt.

Meine Großmutter – sie lebte im Berliner Stadtteil Köpenick – berichtete mir, wie sie die Kämpfe in ihrem Viertel erlebte. An einer Spreebrücke stand eine 8,8-Zentimeter-Flak; 14- bis 16-jährige Hitlerjungen bedienten sie. Drei russische T-34-Panzer hatten sie abgeschossen. Als die Sowjets die Stellung umgingen, ergaben sie sich, warfen die Waffen weg, reckten die Arme hoch. Unter dem Gelächter der Rotarmisten „pumpte“ der Sowjetleutnant und sein Kommissar die Kinder buchstäblich voll Blei.

Marianne Vogt aus dem Zehlendorfer Vorort Rehbrücke notierte in ihr Tagebuch: „Sie kommen in den Keller und leuchten uns mit einer Taschenlampe in die Gesichter. Komm, komm, Frau! Es sind vier Mann.“  Viele Frauen verübten Selbstmord.

Mein Vater hatte in der Hinsicht mehr Glück gehabt. In den Wäldern Kareliens erhielt er im Januar 1942 ein sogenanntes „Dumm-Dumm“-Geschoss ins Gesicht, dass ihm Augen, Nase und Teile des Oberkiefers zerfetzte. Das Kriegsende erlebte er in einem Würzburger Lazarett. Gejammert hat er nie, er lebte mit seiner Behinderung, nicht von ihr – so wie die meisten Überlebenden der Kriegergeneration, die nach 1945 das Land wieder aufgebaut haben und den Wohlstand schufen, den ihre Verächter brauchten, um sorgenfrei demonstrieren und sich moralisch über ihre Eltern und Großeltern erheben zu können.

Die Kriegstoten des Onkel-Tom-Friedhofs aber bleiben vergessen. Es ist die Unfähigkeit der „neuen“ Deutschen, um ihre eigenen Toten zu trauern. Sie könnten von Charles de Gaulle, dem großen Franzosen, lernen. Er sagte: „Den Charakter eines Volkes kann man daran erkennen, wie es nach einem verlorenen Krieg mit den eigenen Soldaten umgeht.“


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