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25.06.11 / Inseln der Erinnerung im Meer des Vergessens / Ein preisgekröntes Bremer Projekt belebt mit Kunst die Erinnerung

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 25-11 vom 25. Juni 2011

Inseln der Erinnerung im Meer des Vergessens
Ein preisgekröntes Bremer Projekt belebt mit Kunst die Erinnerung von Demenzkranken

Derzeit sind in Deutschland etwa 1,3 Millionen Menschen an einer Demenz erkrankt. Experten rechnen für das Jahr 2030 mit einem Anstieg auf 2,5 Millionen. Jährlich werden 200000 neue Erkrankungen diagnostiziert. In der Pflege gibt es unterschiedliche Therapien für Demenzkranke.

Mehr als 50 Jahre hat sie diese Worte nicht mehr geschrieben. Jetzt hat die 95-jährige Dame den Schriftzug säuberlich aufs Papier gekratzt – mit Tinte und Stahlfeder: „Marthe Maier“. Hier kennen sie die alte Frau nur unter Marthe Kaiser. Frau Kaiser leidet wie rund 1,3 Millionen weitere Menschen in Deutschland unter Demenz und lebt schon lange im Bremer Seniorenheim „Sparer Dank“. Ein Bild aus der Bremer Kunsthalle hat nun das kleine Wunder bewirkt, dass Marthe Kaiser sich ihres Mädchennamens entsinnt, auf den sie 1915 getauft wurde – und ihn sogar aufschreibt: Marthe Maier.

Das Projekt heißt „Making Memories“ und wird von der Bremer Kunsthalle und der Arbeiterwohlfahrt (AWO) Bremen veranstaltet. Es setzt mit Kunst gerade bei dementen Menschen bewusst auf die Kraft des Gehirns. In bestimmten Bereichen des Gehirns der Erkrankten gehen allmählich die Nervenzellen und die Nervenzellkontakte zugrunde. Das Hirn wird buchstäblich löchrig. Die Kunst soll den Kranken nun helfen, im Meer des Vergessens Inseln der Erinnerungen anzusteuern, und damit ihnen und ihren Angehörigen lebendige Momente des Zusammenseins und der Reflexion über den Augenblick hinaus ermöglichen.

Solche Erfahrungen wie die von Marthe Kaiser und viele andere kleine Wunder erlebt die Bremer Künstlerin und Kunstvermittlerin Dina Koper häufiger bei ihrer Arbeit. Sie hat im Auftrag der Kunsthalle das Bild „Die Schulstube“ von Gott-hard Kühl in den Kreis der rund 15 Seniorinnen und Senioren mitgebracht, die sich in dem hellen Gemeinschaftsraum von „Sparer Dank“ treffen. Gut sichtbar hat sie das Ölbild auf eine Staffelei mitten im Raum gestellt. Langsam und geduldig hat sie dann die Neugier ihres besonderen Publikums auf das Bild gelenkt: zwei Jungs an einer Schulbank. Die beiden gu­cken eindeutig gelangweilt.

„Die müssen wohl nachsitzen und eine Strafarbeit machen“, vermutet jemand aus der Runde. Durch die Butzenscheiben fällt mattes Licht in die Schulstube. Dunkle, schwere Möbel ringsum. Man ahnt das schöne Wetter draußen und wünscht sich mit den beiden Schülern ins Grüne.

Das Bild tut seine Wirkung. Zwei Minuten und drei Fragen später sind die Senioren in ihre eigenen Biografien eingetaucht: Schulzeit, Elternhaus, damals, früher. Nicht nur in Seniorenheimen, sondern auch direkt in der Kunsthalle bieten die Initiatoren in Kunst-Work­shops „Making Memories“ an. Seit Anfang 2010 profitieren auch Angehörige und Pflegende: In einem Kunst-Workshop für Pflegende und Erkrankte sowie einem dreistündigen Seminar nur für Pflegende erlernen die Teilnehmer, wie sie Kunst als unterstützendes Mittel bei Demenz einsetzen können.

Im „Sparer Dank“ hat Dina Koper inzwischen Schiefertafeln und Griffel auf die Tische gelegt. Alle beginnen, sich an ihre Schularbeiten zu erinnern. An das Fach „Schönschrift“, die Namen der Lehrer sogar und wann sie als Schüler von der Schiefertafel auf Feder, Papier und Tinte umgestiegen sind. „Können Sie noch deutsche Schrift?“, fragt Koper. Ja, klar, wer könnte das nicht? Buchstabe um Buchstabe, Wort für Wort malen die Senioren auf die Tafeln. Eine Gruppe greiser Erstklässler. Das reibende Geräusch der Griffel, eifrig geneigte Köpfe und wie in jeder Klasse auch ein paar Lustlose. Natürlich zieht die Kunstpädagogin dann auch für jeden Feder und Tinte aus der Tasche und Frau Kaiser schreibt ihren Mädchennamen. Dina Koper hat sogar einen Topf Geranien dabei – Blumen wie auf der Fensterbank der „Schulstube“ abgebildet sind. Bruchstück-haft, aber umso lebendiger tauchen bei den alten Leuten Szenen, Bilder und Zitate aus alter Zeit auf. Die Senioren betasten die Pflanze, fühlen ihre behaarten Knospen und schnuppern an den Blüten. „Wenn die Sonne drauf schien, dann rochen die so“, sagt da ein alter Herr, „darum war dann keine einzige Mücke mehr im Zimmer. Geranien hatten wir auch.“

„Making Memories“ überzeugte die Robert-Bosch-Stiftung so, dass sie das Projekt zusammen mit 13 anderen unter 150 Bewerbungen aussuchte und es zeitweilig im Rahmen des Programms „Menschen mit Demenz in der Kommune“ förderte – inzwischen führt die Kunsthalle „Making Memories“ allein fort.

Der Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, Staatsminister Bernd Neumann (CDU), hatte das museumspädagogische Unterfangen bereits im Sommer 2009 mit einem Sonderpreis für kulturelle Bildung ausgezeichnet. „Es geht (bei ,Making Memories‘) nicht um ein konkretes therapeutisches Ziel“, begründete die Jury die Verleihung. „Es geht um Anstöße, um Inspiration, um Lebenslust durch Kunst und Teilhabe am kulturellen Leben einer Gesellschaft.“

Im „Sparer Dank“ ruft Dina Koper mittlerweile fröhlich in die Runde: „Jetzt malen wir mal selber.“ Wie nicht anders zu erwarten, will niemand mitmachen. „Ich kann nicht malen!“, „So ein Quatsch!“, „Nee, ich nicht!“, tönt es aus allen Ecken. Aber dann kann niemand Papier und Pastellstiften widerstehen.

Am Schluss sind die Zeichnungen fertig. Dina Koper hält ein Bild nach dem anderen in die Höhe. Versonnen betrachten die Senioren ihre Werke und rufen in den Raum, was ihre Bilder darstellen: „Fritz mit Kleid“, „Puppenwagen der Schwester“, „die Puppe Rosemarie“.

Als die Gruppe im „Sparer Dank“ nach fast anderthalb Stunden auseinandergeht, kündigt Dina Koper an: „Beim nächsten Mal werde ich ein Stillleben mitbringen, mit ganz viel Essen drauf!“ Dann könne man sich an seine Leibspeise erinnern. „Oh, ja!“, ruft da eine zarte alte Dame, die fast die ganze Zeit geschwiegen hatte, „Liebesperlen!“ Christian Beneker


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