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09.07.11 / Gegen Ellenbogengesellschaft / Ein Plädoyer für mehr Bürgerengagement und demokratische Reformen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 27-11 vom 09. Juli 2011

Gegen Ellenbogengesellschaft
Ein Plädoyer für mehr Bürgerengagement und demokratische Reformen

Vor 35 Jahren erschien auf dem Markt ein Buch mit dem provokativen Titel „Die Kunst, ein Egoist zu sein“. Darin behauptete der Autor Josef Kirschner, wir alle seien Egoisten, aber nur wenige machten das Beste für sich daraus. Statt unseren Mitmenschen zu gefallen und sich dabei selbst zu vergessen, rät er zu mehr Rücksichtslosigkeit und Eigennutz nach der Devise „Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht“. Nun hat Erfolgsautor Richard David Precht ein Gegenplädoyer zu knallharten Selbstverwirklichungstrips und zur Ellenbogengesellschaft geschrieben. In „Die Kunst, kein Egoist zu sein“ zeigt der 47-jährige Publizist, dass der Mensch von Natur aus ein altruistisches Gemeinschaftswesen ist, das nach sozialer Anerkennung sucht. Trotz dieser guten Anlagen machte uns unsere hohe Anpassungsfähigkeit häufig einen Strich durch die Rechnung. Als Meister der Ausflüchte und des Verdrängens gaukelten wir uns oft nur vor, Gutes zu tun, um unser moralisches Selbstbild zu retten.

Zur Untermauerung seiner Thesen zieht Precht querbeet Erkenntnisse der Philosophie, der Gen-, Hirn- und Verhaltensforschung heran. Zu Wort kommen etwa die antiken Lehrmeister Platon und Aristoteles. Als Antwort auf die fortschreitende Individualisierung unserer Gesellschaft bieten sie ein Gemeinschaftsmodell an, in dem Moral und Wohlergehen, Ethik und Politik keinen Widerspruch bilden. Ganz oben in ihrem Tugendkatalog steht die Gerechtigkeit, die eine angemessene Güter- und Chancenverteilung garantiert.

Doch materielle Gleichheit ist für Precht mehr als das Ideal utopischer Philosophen. Zur Illustration eines angeborenen Sinnes für gerechte Verteilung und Fairness entwickelten kalifornische Wissenschaftler ein Spiel, bei dem jeder Teilnehmer eine unterschiedlich hohe Summe Geld erhielt. Die Probanden konnten entweder nichts tun oder auf eigene Kosten die Beträge der anderen Mitspieler umverteilen. Rund drei Viertel der Testpersonen wurden aktiv. Sie bestraften die Top-Verdiener und griffen den ärmsten Mitspielern mit teils kräftigen Finanzspritzen unter die Arme. Frühere Untersuchungen belegten, dass solch ein „Robin-Hood-Impuls“ im realen Leben mit einem größeren politischen Engagement und Bürgersinn einhergeht. Auch die Orientierung des Steuersatzes am Einkommen und die sozialen Sicherungssysteme betrachtet Precht als Folge menschlicher Verteilungsgerechtigkeit.

Überall im Alltag entdeckt der Autor altruistisches Verhalten: Wir spenden Geld, pflegen Angehörige und helfen im Verein. Doch er traut den Bürgern noch mehr zu und will ihre Mitbestimmung institutionalisieren. Dazu bedürfe es einer Verfassungsreform, die dem gewandelten demokratischen Bewusstsein der Deutschen mehr als 60 Jahre nach dem Nationalsozialismus und dem Zweiten Weltkrieg gerecht werde. Precht ist entsetzt, wie Politik und Wirtschaftslobbyisten über die Köpfe der Bevölkerung hinweg in Sachen Stuttgart 21, Atomausstieg, Afghanistaneinsatz oder neue Rechtschreibung entscheiden. Deshalb fordert er mehr direktdemokratische Elemente nach schweizerischem Modell. Dringend notwendig sei zudem eine Föderalismusreform, die den Einfluss der Länder zurück-drängt und den Kommunen mehr Geld und Autonomie einräumt.

Zugleich ruft Precht zu mehr „sozialem Patriotismus“ auf, das heißt diejenigen, denen es in dieser Gesellschaft gut geht, sollten sozial Schwächeren helfen. Philosophisch stützt er sich auf den amerikanischen Kommunitarismus, der für einen höheren Gemeinsinn eintritt. Statt sich auf den Wohlfahrts- und Dienstleistungsstaat zu verlassen, sollten die Bürger selbst Verantwortung übernehmen.

Das Buch serviert dem Leser einen Cocktail aus Philosophie, Psychologie, Evolutionsbiologie, Kulturwissenschaft und Politik, ohne dass sich der Kopf dreht. Trotz eines leichten Hangs zur Sozialromantik regen Prechts Überlegungen zur Bürgergesellschaft und seine Kapitalismuskritik zum Nachdenken an.      Sophia E. Gerber

Richard David Precht: „Die Kunst, kein Egoist zu sein – Warum wir gerne gut sein wollen und was uns davon abhält“, Goldmann, München 2010, geb., 544 Seiten, 19,99 Euro


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