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16.07.11 / »Schweigender Protest« in Minsk / Revolution durch soziale Netzwerke? – »Kämpfen nicht um ein Stückchen Wurst, sondern um die Freiheit«

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 28-11 vom 16. Juli 2011

»Schweigender Protest« in Minsk
Revolution durch soziale Netzwerke? – »Kämpfen nicht um ein Stückchen Wurst, sondern um die Freiheit«

Nach seiner umstrittenen und vom Westen nicht anerkannten Wiederwahl im Dezember ging der weißrussische Staatschef Alexander Lukaschenko mit großer Härte gegen Kritiker seiner Herrschaft vor. Mehrere ehemalige Präsidentschaftskandidaten ließ er auf Jahre ins Gefängnis werfen, die Opposition gilt inzwischen als enthauptet. Trotz einer nie dagewesenen Welle von Massen­repression regt sich weiter Protest. Nach arabischem Vorbild organisieren sich Oppositionelle über elektronische soziale Netzwerke, um Anhänger und Sympathisanten auf die Straße zu bringen.

Der östliche EU-Nachbarstaat erlebt derzeit die schwerste Finanz- und Wirtschaftskrise seit seiner Unabhängigkeit von der Sowjetunion vor 20 Jahren. Der hauseigene Rubel, wegen seiner einstigen Hasenmotive auf den Banknoten als „Sajtschiki“ belächelt, war seit jeher von Inflation gebeutelt, und wer es sich leisten konnte, tauschte überschüssige Mittel in harte Währung um. Doch seit Jahresbeginn zerrinnt den Menschen das sauer erarbeitete Geld buchstäblich unter den Händen. Im Mai musste die Regierung in Minsk den Rubel um mehr als ein Drittel gegenüber dem Dollar abwerten.

Der Zuwachs an Kaufkraft, den Lukaschenko den Beschäftigten der Staatsbetriebe vor der Wahl mit einer willkürlichen Lohnerhöhung um bis zu 50 Prozent bescherte, um gut Wetter zu machen, ist längst wieder aufgezehrt. Seit dem Frühjahr sind Versorgungs- und Devisenengpässe spürbar. Die Preise von Grundnahrungsmitteln wurden eingefroren, woraufhin einige Geschäfte nicht mehr neu beliefert wurden. Hamsterkäufe sogar von Seife und Salz fegten die Regale leer. Hauptstadtbewohner berichten von astronomisch hohen Preisen bei nicht reglementierten Gütern.

Massive Inflation und Versorgungsengpässe drohen nun die Grundlage des stillen Gesellschaftsvertrags zwischen Lukaschenko und seinem Volk zu brechen: die Hinnahme von Willkürherrschaft, Rechtlosigkeit, Korruption und milliardenschwerer Bereicherung des Staatschefs und seiner Entourage gegen die Verheißung politischer Stabilität und Berechenbarkeit sowie die Erfüllung von Konsumwünschen der entstehenden Mittelschicht. Viele Weißrussen haben sich in den vergangenen Jahren einen bescheidenen Wohlstand erarbeiten können und sind vom Raubtierkapitalismus mit Massenverarmung wie im östlich angrenzenden Russland bislang verschont geblieben.

Und so wächst trotz scharfer Unterdrückung jeglicher Opposition die Protestbereitschaft gegen den Autokraten Lukaschenko. Vor kurzem kam es an einem Grenzübergang zu Polen zu spontanen Unmutsbekundungen und Rangeleien mit der Miliz gegen das neue Verbot, das in Belarus billige Benzin auszuführen – was in der Praxis bedeutet, nicht vollgetankt in EU-Länder fahren zu dürfen (PAZ berichtete).

Nicht mehr nur eine vereinzelte Aktion sind mittlerweile die über Facebook koordinierten „schweigenden Proteste“ der Bewegung „Revolution durch soziale Netzwerke“. Diese sind insoweit von einer neuen Qualität, als sie mit vorher nicht gekannter Regelmäßigkeit stattfinden, und das abseits von Wahlkampagnen. Wie jeden Mittwoch seit dem 8. Juni rief die Bewegung auch vergangene Woche wieder zu friedlichen Demonstrationen gegen das Lukaschenko-Regime auf. Nicht nur in der Hauptstadt Minsk, sondern in fast allen Gebietshauptstädten des Landes – auch das ein Novum – waren so meist junge Erwachsene zu zentralen Schweigekundgebungen in den Zentren zusammengeströmt – ohne Sprechchöre, Handzettel, Transparente oder Armbinden, auch ohne die verbotene historische weiß-rot-weiße belarussische Nationalflagge, bisher sicheres (Selbst-)Erkennungszeichen der Opposition. Nur das gemeinsame Klatschen oder Aufstampfen als einzigem Ausdruck von Protest unterschied die Teilnehmer von zufällig flanierenden Passanten.

Der Sicherheitsapparat reagierte indessen gewohnt rigoros und griff zum probaten Mittel der Massenverhaftungen. Nach Angaben der weißrussischen Menschenrechtsorganisation „Viasna“ wurden nach Versammlungen am 22. Juni landesweit 460 Menschen von der Straße weg eingesperrt, allein in Minsk etwa 160; am Mittwoch darauf noch einmal 250, am Nationalfeiertag am 3. Juli mindestens 300 (siehe PAZ Nr. 27). Nach der immer gleichen Vorgehensweise stoßen Milizionäre in zivil die ohne Angabe von Gründen Verhafteten in bereitgestellte Gefängnisbusse ohne Nummernschilder, darunter auch ausländische Journalisten. Etliche Dutzend der „Zugeführten“ wurden in den vergangenen Tagen und Wochen in Schnellverfahren zu Arresten von sieben bis 14 Tagen Dauer verurteilt.

In einem trotzigen offenen Brief an Lukaschenko machten die Initiatoren des schweigenden Protestes den Präsidenten persönlich für die Repressionen verantwortlich. Seit Wochen wiederhole sich das Gleiche: „Personen mit unklarer Berechtigung, die sich nicht ausweisen, schlagen unter Verletzung der Verfassung und anderer von Ihnen unterzeichneter Gesetze der Republik Belarus friedlich eingestellte Bürger, die ruhig in den Straßen ihrer Städte spazieren gehen.“

Die anonymen Autoren unterstrichen, „unter allen Umständen“ weitermachen zu wollen. Die Einschüchterungen würden die Demonstrationen nicht beenden, bald würden Zehntausende von Menschen ihre Angst verlieren. „Wir kämpfen nicht um ein Stück­chen Wurst und um 20 Dollar zusätzlich, sondern um die Freiheit“, heißt es in dem Brief, den die Agentur BelaPAN verbreitete.

Auf einer Pressekonferenz des ukrainischen Internetportals „Obo­zrjewatjel“ zur aktuellen Lage im Nachbarland äußerten Politikexperten die Ansicht, dass ein ernsthafter Widerstand in Weißrussland gerade erst entstanden sei. Nach Meinung des Politologen Wladimir Gorbatsch vom westlich orientierten Institut für Euro-Atlantische Zusammenarbeit in Kiew könnten schon im Herbst „unumkehrbare politische Umwälzungen“ für den Fall eintreten, dass nicht mehr Hunderte, sondern Tausende Lukaschenko-Gegner verhaftet würden. „Die wirtschaftliche Situation verurteilt sowohl die Regierung wie auch die Gesellschaft zum Konflikt“, so der Politologe.

Gegenwärtig ist trotz wachsenden Zulaufs die Zahl der schweigend Protestierenden noch immer gering. Selbst in der Zwei-Millionen-Stadt Minsk dürften es bisher nur wenige Tausend gewesen sein. Christian Rudolf


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