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16.07.11 / Sogar SS-Männern verzeihen / Ein Leben für die deutsch-französische Freundschaft

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 28-11 vom 16. Juli 2011

Sogar SS-Männern verzeihen
Ein Leben für die deutsch-französische Freundschaft

Nach der Lektüre fragt sich wohl jeder Leser, wie so viel Leben Raum findet auf knapp 300 Seiten, Raum in bislang 86 Jahren. Allein die Auszeichnungen füllen eine knappe Seite, beginnend mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 1975 bis hin zum Bundesverdienstkreuz mit Stern und Schulterband 2003. Kein Leser dürfte daran zweifeln, dass sie alle hoch verdient sind.

Grosser wird am 1. Februar 1925 in Frankfurt am Main geboren. Als er sechs Jahre alt ist, verlässt die Familie Deutschland, um den rassistischen Nachstellungen Hitlers zu entgehen. 1934 stirbt der Vater, 1935 werden Mutter und Kinder französische Staatsbürger. Mit falschen Papieren kann er sein Dasein fristen. 1944 beteiligt er sich an den Kämpfen zur Befreiung von Marseille. 1946 ist er Mitarbeiter am „Wochenkurier“, einer Zeitung für deutsche Kriegsgefangene. 1951 beginnt seine akademische Karriere, die er als ordentlicher Professor am Pariser Institut d’études politiques mit der Emeritierung 1992 beendet. Bis heute sind die Tage bis zum Rand mit dem Schreiben von Büchern und dem Verfassen von Zeitungsbeiträgen, mit Vorträgen und ehrenamtlichen Funktionen ausgefüllt.

Was ihn schier unermüdlich antreibt, ist die große Aufgabe, die sich ihm stellt: die Welt menschenwürdiger zu machen als Mittler zwischen Franzosen und Deutschen, zwischen Christen und Atheisten, zwischen Juden und Nichtjuden. Sein Lebenslauf hat ihn dazu in außergewöhnlicher Weise prädestiniert. Hinzu kommt ein gesundes Selbstbewusstsein, das er seinen vorzüglichen geistigen Fähigkeiten verdankt und das ihn befähigt, auch namhaften Persönlichkeiten reinen Wein einzuschenken.

An der Verwirklichung der deutsch-französischen Freundschaft war er, wenngleich nicht als Politiker, intensiv beteiligt. Sie ist heute ein Faktum. Die eherne „Erbfeindschaft“ verblasst selbst im Gedächtnis der Alten. Anders der „Clash of Civilizations“. Für ihn ist das Nebeneinander von Christen und Atheisten das zentrale Thema von alltäglicher Bedeutung. Seine heiß geliebte Frau, mit der er seit 1959 verheiratet ist, praktiziert als Katholikin. Er ist bekennender Atheist und schreibt darüber ein eigenes Kapitel. Seine gelebte Ethik ist bewundernswert. Er könnte sogar verführten SS-Männern verzeihen, wie er betont. Keinesfalls aber Hitler und Himmler. Freilich: Ein Christ müsste es zumindest wollen.

Den schlimmsten Anfeindungen ist er ausgesetzt, wenn er an das Leiden der aus ihrer Heimat vertriebenen Palästinenser erinnert. Doch in den Augen der billig und gerecht Denkenden leistet er gerade dadurch einen unschätzbaren Dienst im Kampf gegen den Antisemitismus, verkörpert er doch die hehre Gestalt Nathans, die alle Kollektivbeschuldigungen entschieden bekämpft, obgleich auch Verwandte von ihm durch Hitler den Tod fanden. (Grosser: „Ich verabscheue die Verallgemeinerung ‚die Deutschen.‘“) Grosser will weiter wirken, und wohl jeder Leser wünscht ihm noch viele Jahre. Doch dem, so wörtlich, „nicht erwünschten“ Tod sieht er gelassen entgegen. Die Totenfeier ist bereits geplant. Sie soll in der Pariser Jesuitenkirche stattfinden, „mit Hervorhebung meines Atheismus“. Konrad Löw

Alfred Grosser: „Die Freude und der Tod – Eine Lebensbilanz“, Rowohlt Verlag, Reinbek 2011, 288 Seiten, 19,95 Euro


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