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23.07.11 / Gegen alle Widerstände: Leben für die Demokratie / Hildegard Hamm-Brücher: Memoiren einer Ausnahmepolitikerin

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 29-11 vom 23. Juli 2011

Gegen alle Widerstände: Leben für die Demokratie
Hildegard Hamm-Brücher: Memoiren einer Ausnahmepolitikerin

Richard von Weizsäcker sagte einst über die große Dame des deutschen Liberalismus: „Sie hat uns vorgelebt, dass Demokratie und Freiheit lebensgestaltende Werte sind.“ Dieses Jahr feierte Hildegard Hamm-Brücher ihren 90. Geburtstag. In ihrem Buch „Und dennoch ... Nachdenken über Zeitgeschichte – Erinnern für die Zukunft“ erinnert sich die ehemalige FDP-Spitzenpolitikerin an ihren persönlichen und politischen Werdegang, den sie in mehr als ein halbes Jahrhundert deutsche Nachkriegsgeschichte einordnet.

Die gebürtige Essenerin wuchs nach dem frühen Verlust der Eltern mit ihren vier Geschwistern bei der jüdischen Großmutter auf. Diese nahm sich vor ihrer Deportation das Leben. Hamm-Brücher studierte Chemie in München, wo sie mit den Geschwistern Scholl und weiteren Widerstandsmitgliedern der „Weißen Rose“ Bekanntschaft schloss. Ihr Doktorvater, der Nobelpreisträger Heinrich Wieland, schützte sie vor der Gestapo.

Nach dem Zweiten Weltkrieg begann sie als Wissenschaftsjournalistin bei der „Neuen Zeitung“ unter Erich Kästner – „mein Kinder-

schwarm“ –, da die Alliierten chemische Grundlagenforschung verboten hatten. Hamm-Brücher war entsetzt über die Demokratielethargie und die schleppende Vergangenheitsbewältigung vieler Bürger: „Selten erlebte ich, nun, da wir von der Diktatur und dem Unrechtsstaat befreit waren, eine Bereitschaft, das Geschehen aufzuarbeiten, seine Ursachen zu ergründen und zu bereuen. Stattdessen hörte ich häufiges Zetern und Jammern. Und das soll Demokratie sein?“

Kein geringerer als der spätere Bundespräsident Theodor Heuss ermutigte die junge Redakteurin zum Schritt in die Politik und wurde ihr politischer Ziehvater. Die Weichen waren gestellt: „Ich war entschlossen, dafür einzustehen, wovon ich überzeugt war.“ Nach einem Studienaufenthalt in den USA trat Hamm-Brücher 1948 in die FDP ein. Sie saß im Münchner Stadtrat und im Bayerischen Landtag und war Staatssekretärin im hessischen Kultusministerium, im Bundesbildungsministerium sowie im Auswärtigen Amt.

Konsequent, aber charmant verteidigte sie ihre Positionen innerhalb der Partei. Sie kämpfte für die Gleichberechtigung von Mann und Frau, für gerechte Bildungschancen und für demokratische Prinzipien. Ihre Art stieß nicht überall auf Gegenliebe:  In der CSU war sie als „Krampfhenne“ (Franz Josef Strauß) und „Bissgurke“ (Alfons Goppel) verschrien.

Für Furore sorgte ihre vielbeachtete Rede im Herbst 1982, in der Hamm-Brücher den Koalitionswechsel ihrer Partei von der SPD zur CDU als „einen Machtwechsel ohne Wählervotum“ kritisierte und das Misstrauensvotum gegen Bundeskanzler Helmut Schmidt anprangerte. Ihr öffentliches Aufbegehren kostete die Politikerin innerhalb der FDP Ansehen und Ämter und führte mit Genscher „auf lange Zeit zum Bruch“. Neukanzler Helmut Kohl übersah sie fortan prinzipiell. Dennoch blieb Hamm-Brücher politisch aktiv. Sie beteiligte sich an Stiftungen, engagierte sich für mehr Bürgerbeteiligung, kritisierte Fraktionszwang, Parteienbürokratie und mangelndes Gesetzesbewusstsein der Abgeordneten und setzte sich vergeblich für eine Verschärfung des Parteienfinanzierungsgesetzes sowie für eine Parlamentsreform ein.

1994 kandidierte sie als erste Frau für das Bundespräsidentenamt, trat aber nach dem zweiten Wahlgang zugunsten von CDU-Kandidat Roman Herzog zurück. „Ein Wahlkampf sollte es nicht sein, wohl aber der Versuch, für neue Impulse der unter Kanzler Kohl behäbig dahin dümpelnden Demokratie zu werben“, kommentiert sie rückblickend.

Aus Protest gegen Irael-kritische Äußerungen des damaligen Partei-Vizes Jürgen Möllemann trat sie 2002 aus der FDP aus. „Ich konnte nicht in einer Partei bleiben, die antisemitisch ist“, begründet sie ihren Schritt und bezeichnet sich seither als „freischaffende Liberale“. Ihr politisches Comeback hatte Hamm-Brücher bei der Bundespräsidentenwahl 2010. Die hessischen Grünen nominierten  die Befürworterin von Joachim Gauck als Wahlfrau. Sie erlebt den großen Druck, der auf die Wahlfrauen und -männer ausgeübt wird, und fordert „die direkte Volkswahl“, wie sie auch in den Nachbarstaaten üblich sei. Aus ihrer Sympathie für die Öko-Partei macht Hamm-Brücher keinen Hehl: „Die Grünen haben mir schon bei ihrem ersten Einzug in den Bundestag mit Blumen und in Turnlatschen gefallen. Endlich kam mal ein bisschen frischer Wind in den verknöcherten Verein.“ Für die Liberalen hat sie nur kritische Worte übrig: „In der heutigen FDP sind die jungen Leute lammfromm, sie drängen nicht auf inhaltliche Veränderung.“

Hamm-Brüchers Lebenserinnerungen sind ein leidenschaftliches, lesenswertes Plädoyer für  bürgernahe Demokratie und gegen opportunistische Machtpolitik. Die in Deutschland längst zur Instanz gewordene Ausnahmepolitikerin legt zugleich ein interessantes Geschichtsbuch  wie persönliches Zeugnis vor. Es bleibt zu hoffen, dass sie sich auch nach ihrem 90. Geburtstag öffentliches Gehör verschafft. Im Anhang finden sich die Reden und Texte der Autorin aus sechs Jahrzehnten.

            Sophia E. Gerber

Hildegard Hamm-Brücher: „Und dennoch ... Nachdenken über Zeitgeschichte − Erinnern für die Zukunft“, Siedler-Verlag, München 2011, 18,99 Euro.


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