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30.07.11 / Zum letzten Mal / Ein Erlebnisbericht von der Flucht

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 30-11 vom 30. Juli 2011

Zum letzten Mal
Ein Erlebnisbericht von der Flucht

In den Vormittagsstunden des 19. Januar 1945 in Willenberg. Die Straßen waren voll mit Soldaten. Aufregung beherrschte das Ortsbild. Ein Konvoi mit verwundeten Soldaten fuhr vorbei. Plötzlich Luftalarm! Meine Mutter nahm mich, Jahrgang 1934, und meinen Bruder Manfred an die Hand. Wir rannten zum Luftschutzbunker, ein Kellerraum einige Häuser weiter, es waren schon viele Leute da, auch Soldaten. Dann ein fürchterliches Dröhnen, Krachen, Bersten. Wieder und wieder. Man hatte das Gefühl: Hier kommst du nicht mehr heraus. Die Menschen beteten laut. Es entstand eine Pause und die Soldaten warnten: „Nicht nach draußen gehen, erst abwarten!“

Als es still wurde, wagten sich einige auf die Straße. Schnell gingen wir anderen nach. Es bot sich  ein chaotisches Bild. Zerstörte Häuser, Flammen, Rauch, Tote, ein getroffener LKW brannte. Die Leute waren in Panik, sie rannten – nichts wie weg, heraus aus der Stadt.

Unsere Mutter nahm aus der Wohnung Kirchstraße 43 noch eine Tasche mit Papieren und dann schnell weg zur Ortelsburger Straße. In der Nähe der Schule erlebten wir einen neuen Angriff aus der Luft. Wir mussten in Bodendeckung gehen und abwarten.

Als es wieder still wurde, gingen wir zur Straße und hatten Glück, ein Militärlaster nahm uns mit in Richtung Ortelsburg. Es war bereits nachmittags, plötzlich hielt der LKW, ein Soldat kam und forderte uns auf: „Aussteigen, runter in den Straßengraben!“ Schon kamen die Tiefflieger, wir wurden beschossen. Wir konnten die aufspritzenden Geschosse sehen, unsere Mutter warf sich auf meinen Bruder Manfred, um ihn zu schützen, dann war der Lärm vorbei und es gab eine Pause. Wieder aufsitzen und weiter ging die Fahrt bis zum Bahnhof Ortelsburg.

Es hieß, ein Transport gehe mit Zivilisten in Richtung Allenstein. Wir warteten auf dem Bahnsteig, Hunderte Leute waren schon da, alle in wilder Aufregung, alle rannten. Nicht alle würden einen Platz im Zug haben, Mütter mit Kinder hatten Vorrang, das muss­te die Polizei klären. Der Transportzug rollte ein, es war in den frühen Morgenstunden des 20. Januar. Wir konnten einen Platz ergattern. Es dauerte lange, dann fuhren wir sehr langsam aus dem Bahnhof. Nicht weit und der Zug stand wieder. Mehrmals Anfahren und Halten, als hätte der Transportführer Befehl abzuwarten. Wieder langsames Anfahren, als wollte er uns Ade sagen lassen wollen.

Tatsächlich fahren wir nicht nach Allenstein, sondern kommen in Bischofsburg an. Es wird erzählt, in Allenstein seien schon die Russen. Die langsame Fahrt geht weiter. Wir passieren Braunsberg. Dann schließlich die Brücken über Nogat und Weichsel. Die alten Leute beten und jammern. Gott sei Dank! Wir sind am westlichen Ufer und in Dirschau. Die Fahrt bis Schneidemühl geht gut voran, hier werden wir von der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt (NSV) mit Lebensmitteln und warmen Getränken versorgt.

Ich weiß nicht mehr, wie lange die gesamte Fahrt dauerte. Bei einem Halt auf offener freier Strecke – es war sehr kalt und es lag viel Schnee – wagten sich einige Mütter zu Fuß in die nächste Ortschaft, um etwas zum Trinken für ihre Kinder zu besorgen. Der Transport fuhr weiter ohne die Frauen. Die Kinder schrieen verzweifelt. Keiner konnte sagen, wo es hinging und wie weit die Russen schon waren. Diese Ungewissheit machte die Leute stumpf, apathisch.

Die Lebensmittel wurden knapp, ich hatte zwei Tage nichts mehr zu trinken bekommen. Bei einem Halt ging ich zur Lok und bekam etwas Wasser aus dem Kessel zum Trinken. Schließlich landeten wir nach tagelanger Irrfahrt in Cottbus. Von dort fuhren wir nach Weißwasser, wo unsere Tante Leni wohnte. Dort wollten wir alles abwarten, um wieder zurück nach Hause zu fahren. Es kam anders. Wir mussten nach einigen Wochen weiter flüchten, nach Steinwiesen in Oberfranken.

Viel später erfuhren wir, dass  Willenberg am 22. Januar 1945 nach schweren Kämpfen von den Sowjets eingenommen worden war. Seitdem habe ich meine Heimat nicht mehr gesehen. Siegfried Petrikowski


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