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06.08.11 / Eiszeit zwischen Balten und Russen / Angst vor historischer Wahrheit – Vergangenheit steht Lösung der Gegenwartsfragen im Weg

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 31-11 vom 06. August 2011

Eiszeit zwischen Balten und Russen
Angst vor historischer Wahrheit – Vergangenheit steht Lösung der Gegenwartsfragen im Weg

Mit Russen sei kein Gespräch über das Baltikum möglich, weil sie vor der historischen Wahrheit Angst hätten, schrieb der schwedische Diplomat Lars Freden in der russischen Zeitschrift „Russland in der Globalpolitik“. Russland hat von 1940 bis 1991 das Baltikum okkupiert und annektiert, es ausgeraubt und ungezählte Balten ermordet und verschleppt. Diese Verbrechen beging es zuerst im Bündnis mit Hitler, später allein, was es bis heute leugnet, anders als Deutsche und Japaner, die ihre Kriegsverbrechen sühnten – und noch immer sühnen.

Wenigstens auf akademischer Ebene nahmen die Russen bereits einige Anläufe zu historischer Ehrlichkeit, beispielsweise im Jahre 2005 in München, wo das Historische Institut der Russischen Akademie, die lettische Staatsuniversität und das deutsche Institut für Zeitgeschichte versuchten, Konsens über die Krisenjahre 1939 bis 1941 zu schaffen. Die von den Teilnehmern als „schädlich“ beklagte „Politisierung der Geschichte“ hat seither aber noch zugenommen. Ende 2010 regte der damalige lettische Präsident Valdis Zatlers eine gemeinsame Historikerkommission an, die unter Leitung des Russen Alexander Tschubarjan und des Letten Inesis Feldmanis ihre Arbeit aufnahm, jedoch Ende Juni 2011 vor ihrem Aus stand. Russlands Präsident Dmitrij Medwedjew vergatterte die russischen Historiker auf eine „Beendigung lettischer Praktiken der Heroisierung von Helfern der Nazis“, die Letten dagegen verlangten ein ehrliches Bekenntnis der Russen zu ihren Verbrechen, deren ökonomische Folgeschäden auf rund 300 Milliarden Dollar geschätzt werden. Das durften die Russen nicht beraten, sie hielten Archivmaterialien zurück und forderten Kommissionsarbeit „über andere Jahrhunderte“. „Wir wollen keine anderen Jahrhunderte“, fauchte Feldmanis Ende Juli, „und wenn die Kommssion nicht in dem abgesprochenen Sinne arbeitet, sehe ich keinen Sinn in ihr“. Diese Reaktion ist so eisig wie das ganze russisch-baltische Verhältnis. Mos­kau stellt die restituierte Souveränität des Baltikums als Geste russischer Großzügigkeit hin und verlangt von den Balten Dankbarkeit für russische Entwick­lungshilfe. Derartige Töne zeigen nach Ansicht des Schweden Freden nur das gestörte Verhältnis der Russen zum Baltikum und damit zu Nato und EU. Mehr noch: In Russland breitet sich Kriegshysterie aus. Laut Umfragen sehen 46 Prozent der Russen die Balten als „Feinde“ an, und Dogmatiker wie Ex-Diplomat Michail Demurin gießen Öl ins Feuer: Das Baltikum sei 1941 den damaligen Normen des Völkerrechts entsprechend der UdSSR beigetreten, das Gerede von russischer „Okkupation“ und „Annexion“ sei rechtlich und historisch Unsinn, es mache die Russen im Baltikum zu Geiseln einer Bedrohung Russlands. Die Baltenländer seien in der Botmäßigkeit von Nato und EU sowie eigener „Ethnoradikaler“. Über sein „Dynamisch-konservatives Institut“ verbreitete Demurin gerade Tiraden wie diese: „Die Politik, die Estland, Lettland und Litauen gegenüber Russland betreiben, ist eine ernsthafte Bedrohung unserer Interessen. In den letzten Monaten zeigten sich Wilna, Riga und Reval als aktive Betreiber antirussischer Aktivitäten westlicher und heimischer Provenienz.” Tatsächlich treiben die Baltenländer gar keine „Politik“ gegenüber Russland, sie sind froh, seit 2004 als Mitglieder von Nato und EU vor „großrussischen Imperialisten“ Schutz zu genießen. Kluge Russen wie der Politologe Michail Deljagin oder der Arbeitgeber-Präsident Igor Jurges verstehen das und beklagen seit Jahren, dass Russland das Baltikum, den „zivilisiertesten Teil des postsowjetischen Raums“, nicht als Chance erkennt. Es lässt sich von „Partnern“ in der GUS als Markt, Öllieferant und Transitraum ausnutzen und missachtet das „europäische Labor“ an der Ostsee. Die Feindschaft Russlands zum Baltikum muss Königsberg ausbaden, das mit dem EU-Beitritt Litauens 2004 zur russischen Exklave wurde und nur mit teuren Visa zu erreichen ist.

Wie klug die baltische Westoption war, spürt Russland an seiner Diaspora. Im Baltikum leben 6,9 Millionen Menschen, darunter 1,2 Millionen Russen. Die wollte Putin als fünfte Kolonne der „historischen Heimat“ einsetzen, was sie solange akzeptierten, wie ihnen Moskauer Druck Privilegien in Bildung und anderen Bereichen einbrachte. Das änderte sich nach dem EU-Beitritt, als neue Gesetze Unterricht überwiegend in der Landessprache verordneten. Die Russen nahmen es hin, grundsätzlich zufrieden mit den neuen Chancen baltischer EU-Mitgliedschaft.

Umfragen bezeugen die „schwache Bindung“ der Diaspora-Russen ans Baltikum. Mittlerweile muss Moskaus Außenminister Sergej Lawrow auf Bitten Estlands die dortigen Russen sogar ermahnen, sich im Eigeninteresse politisch und kulturell mehr zu integrieren. Wolf Oschlies


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