25.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
13.08.11 / Wir leben noch / Mit 87 ist noch lange nicht Schluss

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 32-11 vom 13. August 2011

Wir leben noch
Mit 87 ist noch lange nicht Schluss

Was wohl aus meiner Nachbarin geworden ist? Ob sie noch lebt? Das „schwache Herz“ noch schlägt? 17 Jahre wohnten wir auf derselben Etage, was nicht heißen soll, dass wir uns in die Töpfe sahen oder zusammen Kaffeeklatsch abhielten. Aber es gab Momente, wo es gut war, zu wissen, da ist ein Mensch in der Nähe, der den Notruf im Zimmer im Zweifelsfalle erübrigte. Wurde ein Krankenhausaufenthalt notwendig – sie neigte zu Stürzen – übernahm ich als Nachbarin notwendige Wege und machte Besuche. Meistens passierte es, wenn sie noch „ganz schnell“ was  besorgen wollte. Und sei es kurz vor Ladenschluss den Schlummertrunk. Flasche heil, Knie und Schulter entzwei. Aber das nur nebenbei, danach wurde ihr der Alltag schwer, trotz Pflegestufe. Als sich eine kleine Wohnung in der Seniorenwohnanlage mit Betreuung fand, entschloss sie sich zu einem Umzug. „Schließlich bin ich 87.“ Dennoch ein schwerer Schritt. Es bleiben Zweifel und bei mir ein wunderschöner Sommerhut aus Stroh als Andenken zurück.

Es gibt diese nette Bekannte noch. Ich finde ihren Namen im zweiten Stockwerk an einer Tür. Ich läute und setze zur Vorsicht eine mitleidige Miene auf. „Ich komme“, flötet eine frische und muntere Stimme jenseits der Tür. Es wird geöffnet, und ich traue meinen Augen nicht. Ist sie das wirklich? Mir geht das Märchen durch den Sinn, in dem es einen Jungbrunnen gibt: Man taucht die alten Weiber hinein und als junge Mädchen kommen sie heraus. So ungefähr. Große Freude, als sie mich erkennt, und gleich muss sie erzählen, nachdem sie mir alles gezeigt hat. Sie sei gar nicht dazu gekommen, mir Nachricht zu geben. Der Terminkalender sei voll: Arztbesuche, Ausflüge, Einkäufe. Ich höre, ihre Garderobe muss erneuert werden. „Die Damen ziehen sich zu Tisch hier sehr festlich an. Da muss ich doch mithalten.“ Ich freue mich. Sie sieht fabelhaft aus, und ich erkenne sofort die biologisch zehn jüngeren Jahre, die ihr der Herr Professor bescheinigt hat. „Man ist so alt, wie man sich fühlt“, höre ich, „feeling ist alles.“ Ich bin ganz verdattert. Wie ist es denn mit meinem biologischen Feeling?

Die Pflegestufe gibt es nicht mehr, höre ich weiter. Sie kann sich den Rücken wieder allein waschen. Anscheinend ist sie froh darüber. „Lotte, wie alt bist du eigentlich?“ hätte sie  beim Seniorentreffen ein älterer Herr gefragt. „Herrmann heeßt er ...“, trällert sie. Wir lachen. Meine Güte, ist das schön. Nicht immer diese Klagelieder des Jeremias! Ich sage: „Das machen eben die biologischen zehn jüngeren Jahre.“ Aber ich traue der ganzen Munterkeit nicht so recht, misstrauisch wie ich bin, und frage, ob sie hier wirklich zufrieden ist. Sie überlegt einen  Moment, antwortet: „Ich hab das hier als Notwendigkeit erkannt und bin beileibe nicht unglück-lich. Meine Eltern hatten früher ein Hotel in Kolberg und immer wenig Zeit für mich. Die Gäste gingen immer vor. Eigentlich war das aus heutiger Sicht für mich als Kind interessant, damals sah ich das nicht so und beneidete sie und dachte, was haben die für ein gutes Leben. Vielleicht ist das die Erklärung. Ich bin heute selbst wie ein Gast in einem Hotel. Übrigens, existiert noch der Sommerhut, den ich Ihnen schenkte? Brauchen Sie ihn? Hier könnte ich ihn gut brauchen.“ Ich verspreche, ihn vorbeizubringen. Dann höre ich noch, als sie neulich einen Ausflug zum Auswanderermuseum machten und anschließend Kaffee tranken, hätte sie an jeder Seite einen Kavalier gehabt. Was doch ein schwaches Herz stark sein kann, und es wundert einen, warum das Familienministerium so lange gebraucht hat, bis sie die Alten als die zukünftigen Konsumenten erkannten. Sie sind es ja längst. Hurrah, wir leben noch und hauen auf die Pauke, siehe die fast Hundertjährigen in England, die sich zu einer Band zusammenschlossen und Konzerte geben. Was für eine Generation! Gleich morgen werde ich mit dem Hut zu Lotte fahren. Der Besuch hat mich richtig beschwingt, fast verjüngt! Christel Bethke


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabobestellen Registrieren