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08.10.11 / Das erstes Diakonissenhaus der Neuzeit / Am 13. Oktober 1836 gründete Pastor Theodor Fliedner in Kaiserswerth eine »Bildungsanstalt für evangelische Pflegerinnen«

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 40-11 vom 08. Oktober 2011

Das erstes Diakonissenhaus der Neuzeit
Am 13. Oktober 1836 gründete Pastor Theodor Fliedner in Kaiserswerth eine »Bildungsanstalt für evangelische Pflegerinnen«

Wer heute das Florence-Nightingale-Krankenhaus in Düsseldorf-Kaiserswerth betritt, ahnt kaum etwas von der Pionierrolle dieses Ortes als Urzelle der evangelischen Diakonie in Deutschland. Im damals preußischen Kaiserswerth begannen vor 175 Jahren die ersten evangelischen Diakonissen als „Kaiserswerther Schwestern“ ihr gemeinsames Leben und ihren Dienst an Kranken, Behinderten und Schulkindern.

In diesem Ok­tober wird neben dem 175. Jubiläum der Schwesternschaft auch das 150. Jubiläum der „Kaiserswer­ther Konferenz“ gefeiert, einer Dachorganisation von diakonischen „Mutterhäusern“.

Doch wie hat alles begonnen? Der junge Kaiserswerther Gemeindepfarrer Theodor Fliedner (1800–1864) und seine Frau Friederike (1800–1842) eröffneten 1836 eine kleine Krankenstation, die Nöte der Menschen im beginnenden Industriezeitalters lindern sollte; teilweise unbeschreibliche Not herrschte in vielen Gegenden des Ruhrgebietes, als Dampfmaschinen, Bergwerke und Fabriken wie Pilze aus dem Boden sprossen. Doch das erhoffte Paradies in den Städten erwies sich oftmals als reine Hölle. In einer Zeit, in der es noch keine Kranken-, Renten-, Arbeitslosen- oder Unfallversicherung gab, sahen sich die Menschen weitgehend schutzlos allen Gefahren des Lebens ausgesetzt. Unter teilweise unsäglichen Umständen lebten auch Gefangene in Gefängnissen; verwaiste Kinder verwahrlosten auf den Straßen und erhielten keine Bildung.

In dieser Situation wollte das Pfarrerehepaar Fliedner zumindest etwas tun, was zunächst jedoch nur wie der berühmte Tropfen auf dem heißen Stein erschien. Niemand konnte ahnen, dass aus diesem kleinen Anfang einmal einer der größten Arbeitgeber der Bundesrepublik Deutschland werden würde. Bei ihrer Suche nach Menschen, die sich der Behinderten, Kranken und Ungebildeten annehmen könnten, stießen die Fliedners auf eine Reihe gläubiger Frauen, die ehelos, unausgebildet und ohne Berufstätigkeit waren. Sie boten diesen Frauen eine Unterkunft, Ausbildung und eine neue Tätigkeit an. Sie sollten in einer Gemeinschaft von „Diakonissen“ in einem „Mutterhaus“ leben, eine Berufsausbildung erhalten, um später Kranke zu pflegen oder im Schulwesen zu arbeiten.

Das Modell der „Kaiserswerther Schwestern“ erwies sich bald als überaus erfolgreich; überall im Land, von der Memel bis an den Rhein, von Flensburg bis Konstanz, entstanden „Diakonissenanstalten“. Diese Entwicklung war keineswegs selbstverständlich. Christliche Krankenhäuser, Hospize oder Schulen hatte es schon seit urchristlichen Zeiten gegeben; neu war die Berufung der evangelischen Diakonissen. In der protestantischen Christenheit galt die „Möncherei“ seit Martin Luthers Zeiten und damit seit 300 Jahren als Tabu. Der Reformator, der selbst einmal Mönch gewesen war, hatte das Leben der (katholischen) Mönche und Nonnen scharf gegeißelt. Seither galt das Klosterleben im Protestantismus als unchristlich, als Zeichen einer falschen „Werkgerechtigkeit“.

Doch von diesem lutherischen und protestantischen Verdikt ließ sich das Pfarrerehepaar Fliedner nicht beeindrucken. Sie sammelten die ersten Frauen, die bereit waren, als Diakonissen zu leben und in der Nächstenliebe zu dienen. Die Attraktivität dieses Modells beruhte auch auf den Aufstiegsmöglichkeiten für die beteiligten Frauen. Wer wollte und konnte, erreichte in den neuen diakonischen Einrichtungen Führungspositionen, die Frauen in der damaligen Zeit nicht offen standen. Alleinstehende Frauen, die sonst nur geringe gesellschaftliche Anerkennung erlebten, fanden in dem neuen Modell des gemeinschaftlichen Lebens einen Weg, das Alltagsleben miteinander zu teilen, das tägliche Gebet zu pflegen und einer gemeinsamen und erfüllenden Aufgabe nachzugehen. Zwar legten die Diakonissen keine „Gelübde“ (vor Gott) wie ihre katholischen Mitschwestern ab, aber sie lebten im Grunde genommen nach dem gleichen Modell und praktizierten persönliche Armut, Ehelosigkeit und Gehorsam im Dienst. Diese Idee nahmen Frauen wie Regine Jolberg oder Amalie Sieveking, Männer wie Franz Heinrich Härter, Wilhelm Löhe oder Johann Hinrich Wichern auf, die dann jeweils eigene Akzente einer Diakonie in Gemeinschaft setzten. Mutterhäuser entstanden in lutherischen und reformierten Gegenden, im ländlichen wie im industrialisierten Raum.

Nur 25 Jahre nach der Gründung der ersten Schwesternschaft waren 1861 schon 27 Mutterhäuser in Mitteleuropa entstanden. Am 9. und 10. Oktober 1861 trafen sich unter der Leitung von Pfarrer Fliedner am Ursprungsort die „Deputierten von 13 Diakonissen-Mutterhäusern“ und gründeten die „Kaiserswerther Generalkonferenz“. Nach einem Bericht des Mitteilungsblattes, des „Armen- und Krankenfreundes“, erschienen auf diesem Forum Vertreter aus Straßburg, Utrecht, Karlsruhe, Basel, Darmstadt, Hamburg, Hannover, Speyer und Halle an der Saale. Der Präses der Diakonissenanstalt Bethanien in Breslau gab sich ebenso die Ehre wie der Königsberger Superintendent Wilhelm Kahle oder der Stettiner Consistorialrat Leopold Hoffmann, die ihre leitenden Schwestern und Pastoren mitgebracht hatten.

Die Aufgabe, die sich Theodor Fliedner mit dieser Konferenz gestellt hatte, war nicht einfach. Die Mutterhäuser hatten sich in protestantischer Freiheit sehr unterschiedlich entwickelt. Jetzt galt es, das Netzwerk der Mutterhäuser enger zu knüpfen und die Bewegung nach innen und außen einheitlicher zu gestalten. Auf der Tagesordnung standen Themen wie die innere Leitung der Diakonissenschaft, die Ausbildung der Schwestern, das Verhältnis zu Staat und Kirche, Gehalt und Urlaub der Schwestern.

Als der spätere Kaiser Friedrich III. am 11. September 1884 die Kaiserswerther Diakonie besuchte, war von diesen Anfangsschwierigkeiten kaum mehr etwas zu spüren. Rund 20 Jahre nach dem Tod des Gründers war die Einrichtung in Kaiserswerth zu einem großen Komplex gewachsen. Ein Denkmal erinnert bis heute an den Besuch des damaligen Kronprinzen. Ein Foto zeigt ihn mit einem vierjährigen Patienten des Kinderkrankenhauses, den er auf dem Arm trägt.

Bleibt noch zu erklären, warum das heutige Krankenhaus in Kaiserswerth mit seinen 600 Betten nicht Theodor-Fliedner-, sondern Florence-Nightingale-Krankenhaus heißt. Im Jahr 1851 machte Florence Nightingale (1820–1910) ein dreimonatiges Praktikum in Kaiserswerth, um die Grundlagen der Wundversorgung und der Medikamentenherstellung zu erlernen. Diese Grundlagen wandte sie dann im Krimkrieg von 1854, dem ersten Stellungskrieg der Moderne, zum Segen der Verwundeten an. Heute gilt Nightingale als Pionierin der modernen Krankenpflege als eigenständigem Bereich neben der ärztlichen Kunst. Für die Kaiserswerther Diakonie war daher die Namensgebung des heutigen modernen Krankenhauses im Jahr 1970 Ehre und Verpflichtung zugleich. Hinrich E. Bues


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