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15.10.11 / Eine Errungenschaft des Konservatismus / Sozialstaat und die Sozialpolitik sind keine Erfindung des »Sozialismus« – Sie gingen vom kaiserlichen Berlin aus

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 41-11 vom 15. Oktober 2011

Eine Errungenschaft des Konservatismus
Sozialstaat und die Sozialpolitik sind keine Erfindung des »Sozialismus« – Sie gingen vom kaiserlichen Berlin aus

Die Bundesrepublik Deutschland steckt in einer sehr tiefen Identitätskrise. Dies betrifft insbesondere auch den Sozialstaat und seine Errungenschaften, die von Berlin als Hauptstadt Preußens ausgingen und ganz von preußischem Geist geprägt sind. Dies zu betonen ist wichtig, denn gemeinhin wird angenommen, dass die Sozialpolitik eine Erfindung und Errungenschaft des „Sozialismus“ sei. Im Gegenteil, sie ist ein genuin konservatives Projekt, dessen Wurzeln in Preußen zu finden sind. In seinen „Elementen der Staatskunst“ von 1809 hatte der Jenaer Adam Müller geschrieben, dass der Staat mehr sei als „eine bloße Manufaktur, Meierei, Assekuranzanstalt oder merkantilistische Sozietät“, sondern „die innige Verbindung des gesamten physischen und geistigen Reichtums, des gesamten inneren und äußeren Lebens einer Nation“. Das Gemeinwesen werde bedroht, wenn es „in ein taxenzahlendes Arbeitervolk und in ein anderes müßiges Kapita­listenvolk“ zerfalle. Diesen Gedanken griff im Revolutionsjahr 1848 Ernst-Ludwig von Gerlach, Führer der konservativen Partei in Preußen, auf.

In den Jahren nach 1850 haben vor allem preußische Konservative zum Teil kühne Konzepte vorgelegt, um die „Soziale Frage“ auf evolutionärem Weg, ohne gewaltsamen revolutionären Umsturz zu lösen. Erinnert sei an Joseph Maria von Radowitz, der kurzfristig preußischer Außenminister war und die Idee eines „sozialen Königtums“ entwickelte. Es waren konservative Denker, welche die von politisch linker Seite erbittert bekämpfte Bismarcksche Sozialgesetzgebung der 1880er Jahre begründeten. Doch der eigentliche Vollzieher des preußischen Staates zu einem modernen Sozialstaat war schließlich Wilhelm II. als König von Preußen und Deutscher Kaiser.

Wilhelm beendete Bismarcks antikatholischen Kulturkampf und förderte die Integration der Juden wie kein anderer. Im 1871 gegründeten Kaiserreich waren die Juden zum ersten Male freie und gleiche Bürger. Auch der Dienst beim Militär, in Schulen und in der Justiz stand ihnen offen. Doch weitaus staatstragender war die soziale Gesetzgebung unter der Regentschaft Wilhelms II. Diese Liste ist beeindruckend, wenn auch weitgehend vergessen. Sie soll daher chronologisch aufgezählt und ins Gedächtnis zurückgerufen werden:

1889: Einführung der Invaliditäts- und Altersversicherung für Arbeiter. 1890: Gründung von 31 Versicherungsanstalten, den späteren Landesversicherungsanstalten (LVA); Aufhebung des „Sozialistengesetzes“. 1891: Erste Rentenauszahlung an dauernd Erwerbsunfähige und Arbeiter über 70 Jahre; Arbeiterschutzgesetz (Frauenarbeit, eingeschränkte Nachtarbeit, Kinderschutz); Einführung der staatlichen Gewerbeaufsicht; Zulassung freiwilliger Arbeiterausschüsse in Betrieben; Verbot der Sonntagsarbeit in Industrie und Handwerk. 1892: Ausweitung der Krankenversicherungspflicht auf Familienangehörige. 1895: Verbot der Sonntagsarbeit im Handelsgewerbe. 1899: Invalidenversicherungsgesetz. 1901: Förderung des Arbeiterwohnungsbaus. 1905: Arbeiterausschüsse in Bergbaubetrieben werden Pflicht. 1908: Einführung von Höchstarbeitszeit, Verbot von Nachtarbeit für Frauen und Jugendliche. 1911: Die weltweit vorbildliche Reichsversicherungsordnung (RVO) tritt in Kraft, das Versicherungsgesetz für Angestellte und das Gesetz zur Regelung der Heimarbeit und Einführung der Hinterbliebenenrente werden eingeführt. 1916: Herabsetzung des Renteneintrittsalters für Arbeiter von 70 auf 65 Jahre und für Frauen auf 60 Jahre.

Die Sozialgesetze sind in einem „Klima des Optimismus“ mit dem Glauben an den technischen und wirtschaftlichen Aufstieg bei einem optimalen Bildungssystem formuliert worden. Wenn heute das Rentenalter wieder auf 67 Jahre angehoben wird, deutet das auf ein „Klima des Pessimismus“ hin. Die gesellschaftliche Grundstimmung hat sich verändert, ist von einer Vielzahl von Ängsten geprägt, die jeglichen Elan hemmen und nur noch der Flucht in den Hedonismus freie Entfaltung lassen. Die Konzeptlosigkeit wird kaschiert durch das altrömische Rezept: „Brot und Spiele“.

Die wichtigste Ideologie der Deutschen, so scheint es, ist die Angst geworden. Man hat Angst vor allem, besonders vor jeder Veränderung und wünscht sich eine geplante statische Welt. Das Ausnutzen von menschlichen Ängsten ist zwar uralt und ein probates Mittel von Herrschaft, doch übertriebene Ängste machen blind und lähmen. Wir sind, so eine Forsa-Umfrage, ein Volk von Angsthasen, von Hasenfüßen geworden. Wir haben Angst um unsere Arbeitsplätze, die Gesundheit, die Renten, die Staatsverschuldung, die Atomkraft, die Gentechnik, die Feinstaubbelastung, den Rinderwahn und die Vogelgrippe, die Umwelt, das Waldsterben, den Klimawandel … Wir haben Angst, unendliche, aber vielfach unbegründete, weil es eingeredete und eingebildete Ängste sind. Verbale Kraftmeierei als Ausdruck von Mutlosigkeit regiert allenthalben!

Das „Geschäft mit der Angst“ ist inzwischen zu einem sehr florierenden, wenn auch unproduktiven Industriezweig geworden, der Angstindustrie. Wir amüsieren uns zu Tode, um der Angst zu entrinnen, oder flüchten uns in die Selbstkasteiung. Probleme werden jedoch damit nicht gelöst, insbesondere keine fiktiven, keine eingebildeten. Noch hat sich die Politik des eigentlichen Problems, ihrer Unfähigkeit, die wirklich realen Probleme zu lösen, nicht angenommen, weil sie selbst Teil des Problems ist und mit Scheinproblemen nur Ablenkungsmanöver startet. Wo ist der Hoffnungsträger, der den „Knoten der Angst“ durchschlägt, uns von unnötigen Fesseln befreit? Wenn wir frei würden, um wieder etwas mehr Lebensfreude und Zukunftshoffnung entwickeln zu können, dann sehe es um die Zukunft wesentlich besser aus. Aber diese Stimmung lässt der fatalistisch orientierte Zeitgeist wohl nicht zu. Wolfgang Thüne


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