23.04.2024

Preußische Allgemeine Zeitung Zeitung für Deutschland · Das Ostpreußenblatt · Pommersche Zeitung

Suchen und finden
29.10.11 / Auf schwankendem Boden / Türkische Wachstumsraten primär durch private Verschuldung

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 43-11 vom 29. Oktober 2011

Auf schwankendem Boden
Türkische Wachstumsraten primär durch private Verschuldung

Europa braucht die Türkei – dieser Satz ist immer wieder zu hören, teils vom türkischen Premierminister Recep Tayyip Erdogan persönlich, teils auch von Politikern in der EU. Wer ihn erfunden hat, ist nicht bekannt, aber tatsächlich ist ein Markt mit rund 77 Millionen Konsumenten ebensowenig zu unterschätzen wie Wachstumsraten von an die zehn Prozent pro Jahr.

Doch selbst wenn man alle anderen Aspekte eines EU-Beitritts der Türkei beiseite schieben will – bezeichnenderweise finden sich bei der Suche nach aktuellen Nachrichten zum Stichwort Türkei allen voran Fußballmeldungen – steht es um die Wirtschaft nicht ganz so rosig, wie es aussehen mag. Meldungen, dass die Banken­aufsicht die Verwendung von Kreditkarten drastisch einschränken will, kamen daher „überraschend“. Aber wie im Kleinen, so im Großen: Die Konsumenten kaufen, was immer geht, auf Raten, und das Land insgesamt hat ein notorisch hohes Leistungsbilanzdefizit.

Das „Anschreibenlassen“ hat zwar Tradition, basiert aber auf persönlichem Vertrauen zwischen Käufer und Verkäufer, was beim Ratenkauf, der heute über Kreditkarten erfolgt, nicht unbedingt mehr der Fall ist. Und bei Kreditkosten, die selbst unter Berück­sichtigung der hohen Inflationsrate drastisch überzogen sind, verlieren viele die Übersicht: Nach Abzug der Monatsraten verbleibt ihnen kaum noch etwas fürs tägliche Leben. Kurz gesagt, das Wachstum ist auf Pump, und die private Verschuldung liegt bereits bei rund 200 Milliarden Euro. Die Beschränkungen für Konsumentenkredite, die von den Banken nun umgesetzt werden, müssen also zwangsläufig auch den Konsum drosseln und sich entsprechend auf die Konjunktur auswirken.

Der Tourist bemerkt davon natürlich nichts und hat in gepflegten Badeorten oder in Großstädten, vor allem in Istanbul, meist auch sonst nur die besten Eindrücke. Die gewaltige Bautätigkeit scheint sichtbares Signal einer blühenden Wirtschaft zu sein. Dass alles auf Kredit und nicht selten unter Vernachlässigung von Sicherheitsbestimmungen errichtet wird, bleibt dem Blick verborgen.

Türkei-Reisende, die sich weiter ins Landesinnere oder gar bis in die Osttürkei mit den von der Zentralregierung bewusst vernachlässigten Kurdengebieten verirren, bringen andere Eindrücke mit. Auffallend ist die drastisch unterentwickelte Infrastruktur, etwa bei Bahnen und Straßen, und dort, wo ausgebaut wurde, steht meist ein Hinweis auf Mitfinanzierung durch die EU. Selbst auf der Autobahn Istanbul-Ankara bleibt aber der Verkehr trotz spottbilliger Maut ziemlich dünn, denn bei mitteleuropäischen Treibstoffpreisen überlegt sich jeder Privatmann, wie viele Kilometer er fährt.

Warum also sollte Europa ein Land „brauchen“, das bereits jetzt beträchtliche Zuwendungen erhält und in der EU der mit Abstand größte Netto-Nehmer wäre? Ganz abgesehen davon, dass die Türkei − auch im übertragenen Sinn − ein Erdbebengebiet höchster Kategorie ist. R. G. Kerschhofer


Artikel per E-Mail versenden
  Artikel ausdrucken Probeabobestellen Registrieren