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29.10.11 / Pole = Katholik stimmt nicht mehr / Säkularisierung in vollem Gange – Die »Palikot-Bewegung« zog Aufsteiger und Junge an

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 43-11 vom 29. Oktober 2011

Pole = Katholik stimmt nicht mehr
Säkularisierung in vollem Gange – Die »Palikot-Bewegung« zog Aufsteiger und Junge an

In den polnischen Milchbars, einer Art Schnellgaststätte mit traditionellen Gerichten, lässt sich manchmal beobachten, wie Gäste vor dem Essen flüchtig ein Kreuz schlagen; in Taxen oder im PKS-Überlandbus baumelt am Rückspiegel ein Bildchen der Muttergottes. Die Kirchen, und nicht nur die in den Innenstädten Polens, sind tagsüber bis nach der Abendmesse offen, frequentiert nicht von Kunstinteressierten, sondern von Betern; an Sonn- und Feier­tagen gibt es zehn, elf Messen über den ganzen Tag verteilt, so groß ist der Andrang der Gläubigen. Im mittelpolnischen Lichen wurde 2004 ein riesenhaftes römisch-katholisches Sanktuarium fertiggestellt, das größte Gotteshaus zwischen Oder und Bug. Den legendären Arbeiterführer und kauzigen Ex-Präsidenten Lech Walesa kennt man nicht anders als mit der Madonna von Tschenstochau am Revers.

Die Gleichung „Pole = Katholik“ scheint sich in diesen Eindrücken zu bestätigen. Doch die Religiosität im Polen von heute ist schon länger nicht mehr das, was sie mal war. Genauer: die Tiefe und Prägekraft der christlichen Überzeugung. Polen durchlebt seit dem Beitritt zur EU einen rasanten Modernisierungsschub, der die Gesellschaft umkrempelt. Westliche Verhaltensmodelle ersetzen traditionelle Bindungen. Vier Millionen Polen arbeiten im Ausland, das Gros verließ nach 2004 auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen das Land Richtung Westeuropa. Wer zurück­kehrt, ist geprägt von der Erfahrung liberalistischer, säkularisierter Gesellschaften, etwa in Großbritannien, mit ihrem hedonistisch-freizügigen Lebensstil.

Der Kirche geht die Jugend, zumal die städtische, zunehmend von der Fahne. In Irland genügten zehn Jahre, um den Anteil der jungen Leute, die sich als gläubig und praktizierend einstuften, von 70 auf 30 Prozent sinken zu lassen. In Spanien betrachtet sich von den 15- bis 29-Jährigen nur gut die Hälfte als katholisch. Die Messen sind schwach besucht, 2009 ließen sich erstmals mehr Spanier standesamtlich als vor dem Altar trauen.

Im Vergleich dazu macht Polen zwar eine „gute Figur“. Doch die große Diskrepanz zwischen dem theoretischen Bekenntnis und den täglichen Lebensentscheidungen bereitet den Seelsorgern unruhige Nächte. Die Macht der religiösen Tradition in der polnischen Kultur ist noch groß – es gehört sich eben, gefirmt zu sein, außerdem kann man nur so später kirchlich heiraten –, doch wie im Westen auch wird der christliche Glaube zunehmend als Privatsache betrachtet, dessen Anforderungen nicht in die Lebenspraxis Eingang finden. Man geht sonntags in die Kirche und damit hat es sich. Die große Popularität des katholischen Heiratsvermittlungsportals przeznaczeni.pl (Vorherbestimmte) legt davon Zeugnis ab, dass tiefgläubige Menschen sich auch in Polen inzwischen in der Diaspora befinden. In einem Land, in dem sich 71 Prozent der Jugend als gläubig bezeichnen, müssen diejenigen, die ihren Glauben besonders engagiert leben, auf einen Internetdienst zurückgreifen, um jemanden zu finden, der eine ähnliche Weltanschauung vertritt.

Vor dem Hintergrund dieses gesellschaftlichen Umbruchs ist es nicht verwunderlich, dass die radikalliberale Partei des Multimillionärs und Polit-Provokateurs Janusz Palikot bei den jüngsten Parlamentswahlen aus dem Stand 10,02 Prozent der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigen konnte. Ihr krasser Antiklerikalismus machte sie sensationell zur drittstärksten Fraktion im Sejm. Besonders viel Anklang fand die erst vor einem Jahr gegründete Partei – Hauptslogan: „Für einen modernen Staat“ – bei zwei Wählergruppen: bei den Erst- und Jungwählern bis 25 Jahre sowie bei der karriereorientierten und auslandserfahrenen Generation der zwischen 30- und 40-Jährigen.

Die Palikot-Bewegung kämpft für einen klar laizistischen Staat, für die Freigabe der Abtreibung und weicher Drogen, die rechtliche Gleichstellung homosexueller Partnerschaften und eine gesetzliche Grundlage für künstliche Befruchtung. Die Partei entsendet illustres Personal nach Warschau: Anna Grodzka wird die erste transsexuelle, Robert Biedron, polnischer Schwulenaktivist, der erste offen homosexuelle Parlamentsabgeordnete. Die Feministin Wanda Nowicka zieht ebenso in den Sejm ein wie der frühere katholische Priester Roman Kotlinski, Chefre­dakteur des antikirchlichen Hetzblattes „Fakty i Mity“. Dessen Bruder im Geiste, Andrzej Rozenek, Vize-Chefredakteur der vulgären Hasszeitschrift „Nie“, wird Pressesprecher der Fraktion. Die erste Forderung Palikots nach dem Wahltriumph war, das Kreuz aus dem Sitzungssaal des Sejms entfernen zu lassen. Christian Rudolf


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