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29.10.11 / Vision von einem »neuen Menschen« / Der Bildhauer Ernst Barlach war weitaus mehr als nur ein Schöpfer grandioser Skulpturen

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 43-11 vom 29. Oktober 2011

Vision von einem »neuen Menschen«
Der Bildhauer Ernst Barlach war weitaus mehr als nur ein Schöpfer grandioser Skulpturen

Der Name Ernst Barlach ist meist eng mit seinen Skulpturen verbunden. Der Schöpfer eindringlicher Menschenbilder aus Holz und Bronze hat sich jedoch auch mit Literatur und Grafik beschäftigt.

„Man klebt die Etiketten ,kultisch‘ und ,mystisch‘ auf meine Arbeiten und zerbricht sich den Kopf darüber, welche Rätsel ich aufgebe und mit wie viel Geschick ich deren Lösung erschwere. Mein Glaube ist: Was sich nicht in Worten ausdrücken lässt, kann durch die Form verfügbar werden und in den Besitz eines anderen übergehen. Ich brauche einen Gegenstand, an dem ich mir die Zähne zu Stücken zerbeiße“, schrieb Ernst Barlach (1870–1938) sechs Jahre vor seinem Tod.

Barlach hat sich stets gewehrt, in eine Schublade gesteckt zu werden. Wie vielfältig sein Schaffen war, macht eine Ausstellung mit dem Titel: „Mythos und Zukunftstraum“ der Ernst Barlach Stiftung Güstrow deutlich. Sie zeigt, in welcher Weise sich der Künstler in seinen Werken mit Mythen auseinandersetzte. Zu sehen sind Handschriften seiner Dramen und Prosatexte, bibliophile Kostbarkeiten aus Barlachs Lebzeiten, Publikationen seiner literarischen Werke bis in die jüngste Zeit, Illustrationen zu eigenen und fremden Texten sowie meisterhafte Handzeichnungen und Plastiken. Darüber hinaus sind Druck-grafiken als Einzelblätter und als Mappenwerke aus Paul Cassirers berühmter Pan-Presse zu sehen.

Auf großes Interesse stoßen Lithografien zu Barlachs erstem Stück „Der tote Tag“, seine Holzschnitte zur „Walpurgisnacht“ aus Johann Wolfgang von Goethes „Faust I“ sowie die Skizzen zu Heinrich von Kleists „Michael Kohlhaas“ und zum „Nibelungenlied“. Die Auseinandersetzung mit dem Mythos nehme im Werk Barlachs einen zentralen Platz ein, betont Helga Thieme, Kuratorin der Ausstellung. „Aus der Wahrheit der mythischen Geste schöpfte der Künstler Sinnbilder für das Leiden des Menschen, für seine Größe, für seine ,Angelegenheiten‘, wie er es nannte.“ Seine Arbeit am Mythos sei verbunden mit der expressionistischen Vision von einem „neuen Menschen“. Er entnahm sie unter anderem aus dem Mythos „Sonne-Mond“, „Pferd“, aus dem literarischen „Faust“ und aus den „Nibelungen“. Aber nicht als Theorie, sondern als existenziell und in einer „künstlerischen Sinnübermittlung“.

Ernst Barlach, einer der bekanntesten und bedeutendsten Künstler des frühen 20. Jahrhunderts, fand auf einer Russlandreise im Sommer 1906 sein Thema: den einfachen Menschen in seiner Gebundenheit an Kosmos, Natur und Umwelt. Die dort erlebten einfachen, unverbildeten und bodenverwachsenen Menschen wurden für ihn chiffrenhaft zum Symbol der menschlichen Existenz schlechthin.

Der Künstler, der sich in der Großstadt nie wohlgefühlt hatte, war 1910 ins mecklenburgische Güstrow gezogen. Dort fand er in kleinstädtisch-ländlicher Abgeschiedenheit die Ruhe, die er benötigte, um in höchster Konzentration das Wesen seiner Figuren herausarbeiten zu können. Dort entstanden auch seine Dramen „Der tote Tag“ (1912), „Der arme Vetter“ (1918) und „Der blaue Boll“ (1926). „Der tote Tag“, an dem Barlach seit 1907 gearbeitet hatte, wurde 1912 bei Julius Sittenfeld in Berlin gedruckt und in zwei Ausgaben veröffentlicht: als Buchausgabe und als Mappe mit Textband und 27 Lithografien. Am 3. Dezember 1917 las im Kunstsalon Paul Cassirer der berühmte Schauspieler Friedrich Kayßler Ausschnitte aus dem Drama.

Theodor Däubler sprach dazu über den Dramatiker Ernst Barlach und rief so erstes öffentliches Interesse hervor. Im April 1919 kam es dann zu einer ersten Aufführung im Berliner Lyceum-Club. Die Kritik ging nicht gerade glimpflich mit Barlach um, der 1924 mit dem Kleist-Preis, dem bedeutendsten Literaturpreis der Weimarer Republik, ausgezeichnet worden war. So urteilte Thomas Mann im gleichen Jahr über Barlachs „Toten Tag“: „Gar zu unkollegialisch sondert sich dieser Outsider mit seinem Stück von ihnen ab, – es steht tatsächlich außer aller Literatur, etwas Wildbürtiges, schwerfällig Urwüchsiges und Unzünftiges, etwas Unmodisches, ja Uncivilisiertes haftet ihm an, es ist ein Werk sui generis, ausgefallen und unmöglich, grundkühn und grundsonderbar – das Stärkste und Eigentümlichste, meiner unmaßgeblichen Meinung nach, was das jüngste Drama in Deutschland hervorgebracht hat.“ „Der blaue Boll“ kam bei Zeitgenossen weitaus besser weg. Der Kritiker und Schriftsteller Monty Jacobs schrieb 1930 über die Premiere: „Seltsam, wie persönlich, wie lebendig sie zu uns sprechen, diese Grübler und Visionäre! Deshalb fangen sie uns ein, auf der Straße, oben auf dem Kirchturm und am stärksten in der Gaststube des Hotels ,Zur goldenen Kugel‘. Dass sie alle einen kleinen Sparren haben, steigert nur den Reiz ihrer Bekanntschaft.“

Wer mehr über Ernst Barlach und sein Werk erfahren will, der kann auf unterhaltsame Weise in dem Buch „Auf den Spuren von Ernst Barlach“ wandeln, das nun in zweiter Auflage erschienen ist. Der im ostpreußischen Seeburg geborene Wolfgang Tarnowski hat diesen Führer geschrieben, Toma Babovic die Barlach-Stätten fotografiert. Entstanden ist ein prächtiger Bildband, der leider zu groß ist, um ihn mit auf Reisen zu nehmen.

Silke Osman

Die Schau im Ausstellungsforum-Graphikkabinett Am Heidberg, Güstrow, kann bis zum 15. Januar 2012 dienstags bis sonntags von 11 bis 16 Uhr besichtigt werden, Eintritt 6/4 Euro. Das Buch „Auf den Spuren von Ernst Barlach“ ist im Ellert & Richter Verlag, Hamburg, erschienen (96 Seiten mit 90 Abb.) und kostet 14,95 Euro.


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