28.03.2024

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12.11.11 / Goldener Herbst

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 45-11 vom 12. November 2011

Goldener Herbst
von Vera Lengsfeld

Schon am frühen Morgen wirkt die Stadt wie verzaubert. Die Morgendämmerung färbt die Wölkchen am hellblauen Himmel rosarot und gießt ein pinkfarbenes Licht auf die Fassaden. Die Geräusche des beginnenden Berufsverkehrs wirken gedämpft, die Autos scheinen mehr zu schweben als zu  fahren. Wenig später zeichnet die steigende Sonne die Konturen wieder schärfer. Dafür beginnt das Laub auf den Bäumen zu leuchten, gelb, rot, rostfarben. Der Blätterteppich auf den Straßen raschelt bei jedem Schritt. Es hat seit Wochen nicht geregnet. In den Seen spiegelt sich das bunte Laub. Es wetteifert mit dem Glitzern der Sonnenstrahlen. Auf der Spree fahren die Ausflugsdampfer mit vollbesetzten Oberdecks. Vor den Cafés sind die Außentische stets besetzt, obwohl es keine Heizpilze mehr gibt.

Keine herbstliche Melancholie weit und breit, es ist eine Heiterkeit und Leichtigkeit in der Atmosphäre, als ginge es nicht ans Abschied nehmen, sondern um einen  Neubeginn nach dem kalten Sommer.

Die häufiger werdenden Verspätungen der S-Bahn nimmt man gelassen. Während des Wartens kann man sein Gesicht in die Sonne halten und glauben, man sei im Urlaub und nicht in Gefahr, zu spät zur Arbeit zu kommen.

In diesen Tagen kann man die zahlreichen Probleme der Stadt fast vergessen.

Aber so, wie die Überfülle der Kastanien, Eicheln und Bucheckern die Verkünder eines strengen Winters sind, wenn man der alten Bauernregel glauben will, kann man überall die Vorboten der Verwahrlosung der Stadt  erkennen, wenn man hinzusehen bereit ist. In den boomenden Vierteln wird fieberhaft jede noch vorhandene Baulücke geschlossen, verwandeln sich aufgegebene Fabrikgelände in exklusive Wohngebiete. 

Ideal für Familien? Selbst hier wird der  Abfall achtlos auf die Straße geworfen. Zum  Bäcker nebenan weist eine Spur von Papiertüten und Kaffeebechern. Der nahegelegene Papierkorb quillt über. Als Fußgänger muss man permanent die Augen auf den Boden richten, um nicht in eine der zahlreichen  zerbrochenen Bierflaschen zu treten, die auf Schritt und Tritt herumliegen. Was passiert, wenn ein Kind in diese Scherben fällt, mag man sich nicht ausmalen.

Hundebesitzer, die ihren Lieblingen gestatten, sich auf einem der zahlreichen Spielplätze zu erleichtern, müssen nicht damit rechnen, auf ihr Fehlverhalten hingewiesen zu werden. In der S-Bahn lagern selbst reife Damen ihre beschuhten Füße auf der gegenüberliegenden Sitzbank. In einer Gesellschaft, die viel auf ihr soziales Image hält, wird Rücksicht auf Mitmenschen immer mehr zum Fremdwort.

Der Herbstzauber von Berlin wirkt, aber nur, wenn man bereit ist, nicht genau hinzusehen.


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