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12.11.11 / Bismarck ist die Zukunft / Wirtschaftswissenschaftler der Kaiserzeit über den Reichskanzler

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 45-11 vom 12. November 2011

Bismarck ist die Zukunft
Wirtschaftswissenschaftler der Kaiserzeit über den Reichskanzler

Als im Herbst 1898, kurz nach Bismarcks Tod, der erste Band seiner „Gedanken und Erinnerungen“ herauskam, stürzte sich fast ganz Deutschland auf das Buch. Auch der damals meinungsbestimmende Ökonom Gustav Schmoller (1838–1917): „Ich habe es, in der Lektüre nicht mehr enden könnend, verschlungen.“ Die „kurze“ Rezension in der „Sozialen Praxis“ umfasste dann etwa 30 Seiten und prägte, wie kaum anders zu erwarten, die Meinung in weiten Teilen von Bürgertum und Adel im Kaiserreich.

Gustav Schmoller war der einflussreichste Wirtschaftswissenschaftler im Kaiserreich. In Heilbronn geboren und ausgebildet, trat er früh in preußische Dienste, war Professor an der neuen Reichsuniversität Straßburg und dann Jahrzehnte in Wissenschaft wie in Politik unüberhörbarer Forscher und Mahner an der Berliner Universität. „Schmollers Jahrbücher“ erscheinen mittlerweile im 130. Jahrgang, der von ihm 1872 mitbegründete „Verein für Socialpolitik“ besteht noch heute. Schmoller galt als „Kathe-dersozialist“, weil er zwischen schrankenlosem Liberalismus und kommunistischem Dirigismus einen Mittelweg suchte, darin durchaus ein Vorläufer der Sozialen Marktwirtschaft.

Bismarck hatte seine Erinnerungen mit Bedacht zurückgehalten; der dritte Band durfte sogar erst 1917 veröffentlicht werden. Schmoller kommt zu einem rundweg positiven Urteil, rühmt Bismarck als großen Außenpolitiker, der es verstanden habe, das europäische Mächtesystem in einer für Deutschland günstigen Balance zu halten, würdigt seine Fähigkeit, politische Interessen zu bündeln oder virtuos gegeneinander auszuspielen, bemängelt aber zugleich dessen Unverständnis für politische Parteien und bedauert mehr zwischen den Zeilen, dass der große Autor so wenig auf die Wirtschafts- und Sozialpolitik eingegangen war. Rundum ist es aber, so Schmoller, ein „Lehrbuch der Politik“, das, so sein überschwängliches Fazit, „noch nach Jahrhunderten und Jahrtausenden gelesen und studiert“ werde.

Ganz stimmt Schmoller Bismarck zu, die „Kernfrage“ in der Politik sei das Verhältnis des leitenden Ministers zum Fürsten, was heißen soll, sein, Bismarcks Verhältnis zu Kaiser Wilhelm I. Fast wird Schmoller hier hymnisch: „Bismarck erscheint nur als der Lehnsmann, der treue Diener des treuen Herrn, der sich jede Ungerechtigkeit gern gefallen lässt, wie der Sohn es vom Vater hinnimmt.“ Als 1917 die bittere Abrechnung mit Wilhelm II. herauskam, lebte Bismarck schon lange nicht mehr.

Warum sollte man heute Gustav Schmollers „Über die ,Gedanken und Erinnerungen‘ von Otto Fürst von Bismarck“ lesen? Unbedingt neue Erkenntnisse bringt es naturgemäß nicht. Aber es ist ein aufschlussreiches Zeitdokument des liberalen Bürgertums (denn zu diesem zählte Schmoller) im Kaiserreich, als Fortschrittsgläubigkeit und Optimismus fast alle Schichten des Volkes prägten. Und es ist ein Zeugnis für die mitunter an Verehrung grenzende Bewunderung, die Bismarck auch von Andersdenkenden – gerade in Sachen Wirtschaft und Soziales – entgegengebracht wurde. Die Bismarck-Verehrung, das kann man wohl sagen, war eine Klammer, die das Deutsche Reich zusammenhielt.

Dem kleinen Band ist ein informatives Nachwort des an der Universität Passau lehrenden Historikers Hans-Christof Kraus beigegeben. Man möchte ihm beipflichten, dass Schmoller „eine Reihe wichtiger, noch heute wesentlicher Hinweise zum Verständnis der ‚Gedanken und Erinnerungen‘ – dem wohl bedeutendsten Memoirenwerk der jüngeren deutschen Geschichte – gegeben hat“.   Dirk Klose

Gustav Schmoller: „Über die ,Gedanken und Erinnerungen‘ von Otto Fürst von Bismarck“, Duncker & Humblot, Berlin 2010, broschiert, 49 Seiten, 8 Euro.


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