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26.11.11 / Lieber Opportunist als Märtyrer / Erstmals wurden die persönlichen Materialien des Ost-CDU-Vorsitzenden Gerald Götting wissenschaftlich ausgewertet

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 47-11 vom 26. November 2011

Lieber Opportunist als Märtyrer
Erstmals wurden die persönlichen Materialien des Ost-CDU-Vorsitzenden Gerald Götting wissenschaftlich ausgewertet

Die Ost-CDU war die größte der „Blockflöten“-Parteien in der DDR und Gerald Götting als deren Generalsekretär von 1949 bis 1966 und Vorsitzender von 1966 bis 1989 einer ihrer prominentesten Exponenten. Eine unlängst im Aachener Helios-Verlag erschienene Götting-Biografie geht auf 250 Seiten unter anderem den Fragen nach, wie der Parteifunktionär es mit der Stasi hielt und wie der erklärte Christdemokrat dem weder christlichen noch demokratischen SED-Regime an exponierter Stelle über Jahrzehnte dienen konnte.

Die Wissenschaft hatte sich zwar bereits schon nach der Wende seiner angenommen, aber nun ist mit Peter Joachim Lapps „Gerald Götting. CDU-Chef in der DDR – eine politische Biografie“ erstmals ein Werk erschienen, für dessen Erstellung neben Stasi-Unterlagen, SED-Material aus dem Bundesarchiv, dem zentralen Partei-Archiv der Ost-CDU, das die Konrad-Adenauer-Stiftung verwaltet, sowie Aussagen von Zeitzeugen auch die umfangreichen persönlichen Materialien Göttings ausgewertet wurden, die dieser als Grundlage für seine Autobiografie gesammelt hatte, aber aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr verwerten konnte.

Es ist die Frage, ob dadurch eine andere Gesamtwertung von Göttings Wirken nötig wird, als sie bisher getroffen worden ist: So habe er das „Image eines skrupellosen Fronvogts der SED“, der „von menschlicher Freiheit auch und gerade im christlichen Verständnis nichts, rein gar nichts begriffen“ habe. Die Antwort lautet: An diesem Befund ändert auch die vorliegende Biografie nichts.

Dabei formuliert der Autor betont sachlich und enthält sich meistens eines Werturteils, trägt sein Thema ohne unkontrollierbare Schuldzuweisungen und quasi streng nach Aktenlage vor. Besonders wird den Leser interessieren, in welchem Ausmaß und mit welchen Folgen Götting mit der allgegenwärtigen Stasi zusammengearbeitet hat. Die Aktenlage ergibt, dass Götting mit den „Organen“ beständig in offiziellem Kontakt war und selbstverständlich rund um die Uhr überwacht und abgehört wurde. Aber es ist nicht nachweisbar, dass er sich jemals zur Stasi-Mitarbeit verpflichtet oder in den Diensten des KGB gestanden habe. Spitzel aus seiner nächsten Umgebung berichten, dass er über seine Mitarbeiter in der Partei schlecht geredet und dass sein autokratischer Führungsstil die Stimmung in der Partei gedrückt habe. Aber er hat seine Leute nicht bei der SED angeschwärzt. Da große Teile der Stasi-Akten noch in der Wendezeit vernichtet worden sind, bleibt hier allerdings eine letzte Ungewissheit.

Am wichtigsten bezüglich Götting ist sicherlich die Erörterung des Spannungsfeldes zwischen christlichen Grundwerten und der Mitarbeit in einem Staat mit totalitärer und atheistischer Ideologie. Da gab es Göttings Konzept des „christlichen Realismus“. Das lief darauf hinaus, den offiziellen Sozialismus als die bestimmende Kraft der Zukunft zu bejahen und das Christentum als davon nicht tangiert, ja sogar belebt zu verstehen. Denn nach Götting konnte der Christ in der sozialistischen Ordnung seine humanitären Ideale besser leben als im westlichen „Wolfs-Kapitalismus“.

Das ist theologisch bodenlos, angesichts der vielfach unmenschlichen Praktiken des DDR-Regimes auch ethisch nicht zu vertreten und nur durch politischen Opportunismus zu erklären. 1991 schrieb Götting: „Ich selbst hatte geglaubt, dass die Freiheit der Gesellschaft …, wie es der Aufbau des Sozialismus forderte, Vorrang vor den individuellen Freiheiten haben musste. Aber das war eine Illusion. Das Geld und der Profit sind die Motoren, die das Geschehen und das Verhalten der Menschen bestimmen …“ Da haben wir es: Kollektiv verstandene Freiheitsrechte in ihrer Ausschließlichkeit widersprechen nicht nur westlichem Verfassungsdenken, sondern auch dem christlichen Personalismus. Die sozialistische Botschaft wird eindeutig der christlichen übergeordnet.

Götting hielt nichts davon, zum Märtyrer zu werden. Entweder man mache in der DDR mit oder man verlasse das Land, so dachte er. Auch reiste er als Vorsitzender der „Liga für Völkerfreundschaft“ gern und viel und überall hin auf dem Globus. Denn seine Drahtzieher wussten, dass er dabei keinen politischen Flurschaden anrichten würde und dass sein offenes, gewinnendes Wesen zusammen mit Kultiviertheit und Sprachgewandtheit die bestmögliche Reklame für die DDR abgab. Er gab selbst zu, dass er es genoss, dem tristen DDR-Alltag zu entfliehen, und sagte 1984 (gemäß Stasi-Unterlagen), „dass er zutiefst unzufrieden ist, wieder in der DDR zu sein, wo alles so kleinkariert, provinziell sei und sich eigentlich niemand frei entfalten könne … Die Arbeit für die Partei (CDU) habe doch eigentlich keinen Sinn mehr, weil die SED sowieso alleine die Entscheidung zu allen wichtigen gesellschaftlichen Fragen trifft.“ Bernd Rill


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