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03.12.11 / Teure Freiheit / Islam im Aufwind, Wirtschaft im Abwind: Ein Blick nach Tunesien zeigt ein bedrückendes Bild

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 48-11 vom 03. Dezember 2011

Teure Freiheit
Islam im Aufwind, Wirtschaft im Abwind: Ein Blick nach Tunesien zeigt ein bedrückendes Bild

Tunesien muss seine Freiheit teuer bezahlen. Für den Sturz des Diktators im „arabischen Frühling“ haben viele ihr Leben geopfert. Seitdem leidet die Wirtschaft. Im ersten Halbjahr 2011 kamen nur rund halb so viele Touristen wie im ersten Halbjahr 2010: ein Verlust von rund einer halben Milliarde Euro und annähernd 90000 Jobs. Schätzungen zufolge hängt mindestens jeder dritte Arbeitsplatz am Tourismus. Offiziell meldet das Land eine Arbeitslosenquote von 14,9 Prozent, tatsächlich sind es deutlich mehr.

„Alles klar, Chef?“, fragt der Kellner mit einem etwas angestrengten Lächeln in perfektem Werkshallendeutsch fast jeden Gast, der vorbeikommt. Es dauert keine zwei Tage, bis die Mitarbeiter des Hotel Fourati in Hammamet jeden Gast und seine Wünschen kennen. Kein Wunder, hat das Hotel doch jetzt im Herbst fast mehr Personal als Gäste.

Auf den Balkonen der wenigen bewohnten Zimmer sonnen sich zumeist ältere Herrschaften, Deutsche und ein paar Österreicher, lesen, spielen Karten oder träumen vor sich hin. Die drei intensiv gechlorten Schwimmbäder funkeln reiseprospektblau in der Sonne. Draußen in den Straßencafés bekommt man einen (vom Staat subventionierten) Kaffee oder Tee für rund 90 Cent, ein gutes Essen im Lokal für drei oder vier Euro.

Viel Geld für Einheimische wie Lazhar Hajri. Der 29-Jährige hat in Chemie promoviert und nach vielen Bewerbungen an der Uni Monastir eine halbe Stelle ergattert. Dort bekommt er umgerechnet rund 250 Euro im Monat, weniger als das Durchschnittseinkommen in Tunesien. Die begehrten Stellen für junge Wissenschaftler vergibt die tunesische Regierung in Wettbewerben. „Letztes Jahr waren es 15 Stellen, heuer schon 40“, freut sich Lazhar. Er trägt, wie immer mehr junge Männer im neuen Tunesien, einen Bart nach islamischer Sitte. Religion ist wieder angesagt.

Lazhar setzt wie seine ganze Familie seine Hoffnungen auf „En Nahda“, die Wiedergeburt. 42 Prozent der Stimmen holte die als moderat islamistisch geltende Partei bei den ersten weitgehend freien Wahlen Ende Oktober. Auf dem Land und im armen Landesinneren waren es noch deutlich mehr. Ende November vereinbarten die Wahlsieger eine Koalition mit dem sozialdemokratisch orientierten „Kongress für die Republik“ (CPR) und der linken Ettakatol-Partei.

Lazhars Onkel Muhammed hat sein Auto, einen alten Mercedes Diesel von 1982, mit Aufklebern der Partei dekoriert. Ein weiterer klebt auf seiner Baseball-Mütze, die er wahrscheinlich nur zum Schlafen, Duschen und Beten abnimmt.

„Die ganzen arabischen Präsidenten, alles Diebe, alles Lügner, Assad in Syrien, Mubarak in Ägypten und bei uns Ben Ali“, schimpft der Mechaniker in einer radebrechenden Mischung aus Arabisch und Französisch, während er seinen altersschwachen rostigen Benz über die schmalen Straßen zwischen den Olivenhainen seines Heimatdorfes steuert. Vor lauter Ärger kann er die Hände kaum am Lenkrad halten. Muhammed ist sich „ganz sicher“, dass die von der „Wiedergeburt“ ehrlich und weniger korrupt seien, schließlich glaubten sie an Gott und hielten sich an die Regeln des Koran.

Eine Frage nach dem neuen Tunesien oder nur ein Stichwort löst bei vielen Taxifahrern, Bauern und anderen sogenannten kleinen Leuten einen gewaltigen Redeschwall aus. Endlich können sie frei sprechen – und glauben: an die Lehren des Propheten, den Koran und vor allem an „den Respekt vor der Würde der einfachen Menschen, auch und gerade der Armen und Benachteiligten“. Das Land scheint nach der Aufrichtigkeit zu lechzen, die „En Nahda“ verspricht.

Auch Lazhar betont wie so viele, dass der Koran die Muslime zu Toleranz auch gegenüber Andersgläubigen verpflichte. Die jüdische Minderheit lebe sicher und unbehelligt auf Djerba, in Tunis und in anderen Regionen. Zum Opferfest brächten ihnen die muslimischen Nachbarn Fleisch und andere Gaben. Auch dies sei ein Gebot des Glaubens.

Lazhar, der junge Chemiker, spricht neben Arabisch fließend Französisch und Englisch. Dennoch bekam er wie alle anderen an der Uni nur einen Jahresvertrag mit einer vagen Verlängerungsoption. Nach spätestens vier Jahren ist definitiv Schluss. Das Material für chemische Experimente müsse er selbst kaufen. Die Uni habe kein Geld.

Lazhar führt auf die Dachterrasse mit Blick über die flachen Würfelbauten des Dorfes und die Olivenplantagen. „Da unten“, sagt er und zeigt nach Süden, „liegt das Industriegebiet. Dort schuften die Arbeiter in den Bekleidungsfabriken französischer und deutscher Firmen für 300 Dinar (rund 150 Euro) im Monat bis zu sieben Tage die Woche, manchmal zehn Stunden am Tag.“ Diktator Ben Ali wollte europäische Investoren vor allem mit billiger Arbeit ins Land locken: niedrige Löhne, Steuervorteile und kaum Arbeitsschutz. Auch die Ferien in den Hotels an den Stränden von Hammamet, Monastir oder Djerba sollten vor allem billig sein. 32 Dinar, gut 15 Euro kostet im November eine Nacht mit Halbpension im Drei-Sterne-Hotel Fourati laut Aushang an der Rezeption. Europäische Großveranstalter bekommen die Zimmer oft noch deutlich billiger. Drei Euro pro Tag zahle Neckermann für die Verpflegung eines Touristen, berichtet ein Gast, der Einblick in die Preislisten hatte. Für Investitionen bleibt den Hoteliers so kein Geld übrig. Viele Häuser verkommen, Standard und Preise sinken immer weiter.

Viel los ist nicht im Village Kèn. Die Zimmer stehen leer, das Restaurant wartet auf Gäste. Die neue Regierung will weiterhin Touristen ins Land locken. „Jeder Gast kann weiterhin in Ruhe sein Bier trinken und die Frauen dürfen im Bikini am Strand liegen“, versprach unlängst ein designierter Minister der islamischen „En Nahda“-Partei. Der Tourismus solle allerdings an Qualität und Anspruch gewinnen. Das Land will weg vom Billig-Image.

Wer die jungen Männer fragt, die in den vielen Straßencafés sitzen und vor allem auf Jobs hoffen, bekommt durchweg optimistische Antworten: „Jetzt sind wir frei. Es wird besser.“ Robert B. Fishman


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