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10.12.11 / Ukraine und EU –Ist der Traum ausgeträumt?

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 49-11 vom 10. Dezember 2011

Gastkommentar
Ukraine und EU –Ist der Traum ausgeträumt?
von Dr. Klaus Rose

In Brüssel war man ratlos. Da wurde die ehemalige Ministerpräsidentin der Ukraine, Julia Timoschenko, von den neuen Potentaten wegen „Amtsmissbrauchs“ zu sieben Jahren Haft verurteilt. Mag die mit ihrer Kornähren-Frisur charakteristische ukrainische Spitzenpolitikerin zwar auch nicht fehlerfrei gearbeitet haben, aber gleich von ihren Nachfolgern weggesperrt zu werden? Nein, das erinnerte doch zu sehr an die Praktiken längst vergangener Regime. Das konnte man in der EU nicht einfach durchgehen lassen. Aber hat nicht auch der Westen versagt?

Mitte Oktober entschloss man sich in Brüssel, den Präsidenten der Ukraine, Viktor Janukowitsch, kurz vor einem wichtigen Besuch wieder auszuladen. Die kolportierte Begründung war, dass man mit einem „solchen Politiker“ keine EU-Verbindung aufbauen wolle. Was hätte man in Brüssel der Ukraine angeboten? Nichts Geringeres als eine Freihandelszone sowie ein Assoziierungsabkommen, also die Vorstufe eines möglichen EU-Beitritts. Und jetzt? Verspielt man wegen der „Causa Timoschenko“ einfach die Zukunft? Oder steckt anderes dahinter?

Von gutem Willen beseelt, aber auch in knallharter Realpolitik traten nach dem Ende der Sowjetunion und seit der neuen Freiheit des ukrainischen Volkes praktisch alle Politiker und Publizisten für die Einbindung des jungen Staats in die europäischen Strukturen ein. In unmittelbarer Nachbarschaft zur immer selbstbewusster werdenden EU sollten nur Staaten und Gesellschaften sein, die sich „EU-gesittet“ benehmen. Das Rechts- und Sozialsystem sollte genauso passen wie die Wirtschaftsstruktur oder die Militärdoktrin. Deshalb strebten alle nach Kiew. Den Beitritt des 50 Millionen Einwohner starken Staates zur EU sah man im europäischen Interesse. Schon 1992 veranstaltete beispielsweise die Hanns-Seidel-Stiftung eine Konferenz in Kiew, um bei den Grundstrukturen der neuen Demokratie zu helfen. Auch der deutsche Verteidigungsausschuss reiste 1995 nach Kiew und Odessa – und von dort aus weiter nach Moskau, um die „Öffnung der Nato“ zu untermalen. Die jeweiligen Mitglieder der deutsch-ukrainischen Parlamentarier-Gruppe im Deutschen Bundestag waren intensiv beschäftigt, Veranstaltungen jeder Art, in Deutschland und in der Ukraine, zu organisieren und damit die Anbindung der Ukraine an den Westen zu erreichen.

Zunächst glaubte auch der Freistaat Bayern, auf alte Wurzeln zurückgreifen zu können. Kiew und München sollten enger zusammenrücken. Noch im Jahr 2007 war Ministerpräsident Edmund Stoiber in Kiew und auf der Krim aufgetreten. Er wurde hinterher in den bayerischen Medien folgendermaßen zitiert: „Stoiber sagt Ukraine Unterstützung zu“ und „Stoiber umwirbt die Ukraine“. Wörtlich hieß es: „Die Ukraine kann auf ihrem europäischen Weg mit der vollen Unterstützung der Bundesregierung und Bayerns rechnen.“

Betrachtete man damals die Ukraine noch aus dem hehren Blickwinkel der „Orangenen Revolution“, die 2004 die ganze freie Welt faszinierte? Hatte der außenpolitisch nicht sonderlich versierte Edmund Stoiber zu diesem Zeitpunkt noch nichts vom Wutschaum Pekings vernommen, das auf keinen Fall eine Ansteckungsgefahr zulassen wollte? Oder von der Abneigung Moskaus, das „an russischen Grenzen“ niemals die EU oder gar die Nato haben wollte? Das aber doch die baltischen Staaten als EU- und Nato-Länder vor die Nase gesetzt bekam? Jedenfalls dachte man bald bloß noch an einen „Pufferstaat“ Ukraine, der die beiden Blöcke auseinander halten sollte. Kam diese neuerliche Idee etwa von der Bedeutung des Wortes „Ukraine“, das man mit „Grenzland“ übersetzen kann? Denn irgendwie baute der Westen plötzlich hohe Hürden auf. Als sich die volle Demokratisierung nicht sofort einstellte, übrigens auch nicht in Bulgarien und Rumänien, ging der Westen zunehmend auf Distanz. Er brachte alle möglichen Gründe ins Spiel, um die vorher angestrebte EU-Integration nicht weiter verfolgen zu müssen. Da fragt man sich, ob der „russische Zukunftspfad“ wichtiger geworden war, weil man dort umworben oder bei Unbotmäßigkeit auch beschimpft wurde, was man wegen Erdgas- und anderer Geschäfte keinesfalls zulassen konnte.

Dann kam die unsägliche Debatte auf, maßgeblich auch von Edmund Stoiber: „Wer will denn noch alles in die EU?“ Bayern hatte inzwischen eine besonders liebevolle Beziehung zu Moskau entwickelt. Dort sitzen seit langem die großen bayerischen Unternehmen, dort sind bilaterale Wirtschaftsbüros eingerichtet, dort residiert die Hanns-Seidel-Stiftung – schon lange tagte sie nicht mehr in Kiew. Mit den kleinen Verwandten in Kiew hielt man keinen Kontakt mehr.

Im 9./10. Jahrhundert nach Christus gab es nicht Moskau, sondern das Großreich der Fürsten von Kiew, die „Kiewer Rus“. Deren Herrscher Wladimir, genannt der Heilige, nahm 988 das Christentum im byzantinischen Ritus an. Als im 13. Jahrhundert die Mongolen durch die Lande wüteten, zerbrach die Macht der Großfürsten von Kiew. Es entwickelten sich eigenständige Völker, die Russen oder auch die Weißrussen. Moskau blühte auf. Es beanspruchte die „Kiewer Rus“ als seine Vorgeschichte, ganz wie Deutsche und auch Franzosen Karl den Großen als ihren Urahn sehen. Mit der Unterbrechung durch die Zaren-Hochburg St. Petersburg blieb Moskau das Zentrum Russlands. Kiew aber lag im Brennpunkt verschiedener europäischer Mächte, von Polen und von Litauern und sogar von Schweden, die 1709 in Poltawa (Zentralukraine) eine Entscheidungsschlacht verloren. Man darf auch nicht die Kosaken vergessen, die ursprünglich Leibeigene waren und dann umso mehr ihre Freiheit betonten. Dass Russland sich durch die polnischen Teilungen große Landstriche des eigentlichen ukrainischen Gebiets einverleibte und nicht mehr hergab, soll ebenfalls erwähnt sein.

Heute lockt also das wiedererstandene Russland. Es ist vor allem der nationale Erwecker Wladimir Putin, der eine eurasische Union anstrebt und damit der „ruhmreichen“ Sowjetunion zu neuem Glanz verhelfen will. Mit einer Zollunion als Gegengewicht zur EU-Freihandelszone sollen Russland, Weißrussland, die Ukraine und Kasachstan verbunden werden. Präsident Viktor Janukowitsch denkt von seiner geografischen Herkunft und seinem politischen Lebenslauf zwar pro-russisch. Er weiß aber aus historischen Überlegungen, dass sein Land erneut im großen Russland verschwinden könnte. Denn als „Pufferstaat“ wird die Ukraine keine Überlebenschance haben.

Manchmal entsteht Großes aus Banalem. So wird sich im Jahr 2012 der europäische Blick wegen der Fußball-Europameisterschaft monatelang auf Polen und die Ukraine fokussieren. In deutschen Medien wird man viel über das Leben in der Ukraine hören und lesen. Die Geschichte wird bemüht, auch die gemeinsame polnisch-ukrainische Zusammenarbeit. Die europäischen Netzwerke können vertieft werden, grenzüberschreitende Verkehrssysteme neu aufgebaut entstehen. Doch bisher haben weder der Fußball noch das sympathische Auftreten der beiden Klitschko-Brüder etwas am Politik-Stil der Oligarchen und des ehemaligen Kommunisten Janukowitsch geändert. Die große Chance für wahre Demokratie und Freiheit scheint auf lange Zeit vertan. Aber dafür lebt es sich gut mit Moskau, nicht wahr?

 

Der CSU-Politiker Dr. Klaus Rose, geb. 1941, gehörte dem Bayerischen Landtag und von 1977 bis 2005 dem Bundestag an. In den Jahren 1997/98 war er Staatssekretär im Bundesverteidigungsministerium.


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