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17.12.11 / Ein Engel im Café / Weihnachten für den einsamen Wilhelm

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 50-11 vom 17. Dezember 2011

Ein Engel im Café
Weihnachten für den einsamen Wilhelm

Opa, bist du der Weihnachtsmann?“ Wilhelm schreckte aus seinen Gedanken auf. Er blickte müde im Café herum. Niemand da, außer der Mutter, die unentwegt in ihr Handy quatschte und dem kleinen Mädchen, das vor seinem Tisch stand. Dann schaute er in die Kaffeetasse: Leer, auch das noch. „Bist du der Weihnachtsmann, Opa?“

Kann man denn nie seine Ruhe haben, dachte Wilhelm, erst das blöde Weihnachtsgedudel aus dem Radio und jetzt noch dieses kleine Mädchen. „Warum soll ich der Weihnachtsmann sein?“ „Weil du einen weißen Bart hast. Und eine Mütze. Die hat aber die falsche Farbe.“ „Papperlapapp! Es gibt keinen Weihnachtsmann.“ „Doooch! Ich hab welche gesehen. Gaaanz viele.“ „Ich nicht.“ Das Mädchen kletterte auf den Stuhl und legte seine Hände auf die Tischplatte. „Du kannst keinen Weihnachtsmann sehen, Opa. Nur Kinder sehen Weihnachtsmänner.“

Wilhelm blickte hilfesuchend zu der Mutter hinüber. Die nahm das Handy vom Ohr. „Virginia, lass den Mann in Ruhe“, rief sie in einem gelangweilten Tonfall, um sich gleich wieder ihrem Mobiltelefon zuzuwenden. Das Mädchen rückte näher heran. Es blickte verschwörerisch. „Schimpft deine Mami auch immer, wenn du mit fremden Männern sprichst?“ „Ich hab keine Mutter mehr. Und auch keinen Vater.“ Darüber musste das Mädchen erst einmal nachdenken. Es nagte an der Unterlippe und schaute auf Wilhelms Hände mit den Altersflecken. „Dann bekommst du gar keine Geschenke?“ „Ich dachte, die Geschenke kommen vom Weih-nachtsmann?“ Das Mädchen setzte sich jetzt sehr gerade hin. Es spitzte die Lippen und blickte Wilhelm strafend an. „Du bist ganz schön dumm, Opa! Der Weihnachtsmann ist doch nur der Kurierfahrer, so wie Papa. Die Geschenke werden im Himmel gebastelt. Von den Engeln.“ „Es gibt keine Engel.“ „Doooch! Papa sagt immer, dass ich ein blonder Engel bin.“ „Ja, ja“, brummte Wilhelm in sich hinein, „heute blonder Engel, aber in zwanzig Jahren muss sie sich Blondinenwitze anhören.“

Wieder nagte das Mädchen an seiner Unterlippe. Es rückte noch näher an Wilhelm heran. „Vielleicht haben deine Kinder was für dich bestellt“, flüsterte es. „Hab keine Kinder.“ „Dann deine Freunde?“ „Hab ich auch nicht. Und lass mich jetzt in Ruhe.“ Wilhelm fuhr mit dem Ärmel unter der Nase entlang, wo sich schon wieder dieser Tropfen gebildet hatte, wie immer im Winter. „Das macht man nicht“, sagte das Mädchen streng. „Man muss immer das Taschentuch nehmen. Immer!“ „Virginia, komm jetzt herüber, bitte! Und lass den Mann in Ruhe.“ Das Mädchen kletterte vom Stuhl. Es rannte zum Kindertisch in die Spielecke, griff nach den Buntstiften, prüfte gewissenhaft deren Spitze und begann zu malen. Wilhelm wollte gerade wieder mit dem Ärmel unter der Nase entlangfahren, doch dann überlegte er es sich und suchte nach dem Taschentuch. Mit einem Mal stand das Mädchen wieder neben ihm, er hatte es nicht kommen sehen. Es schob vorsichtig ein Blatt Papier zu ihm hin. „Für dich“, sagte es leise, „damit du auch ein Geschenk hast.“

Die Mutter hatte das Telefongespräch beendet. Sie hielt dem Mädchen den Mantel hin. Am Ausgang drehte sich der blonde Engel noch einmal um und winkte Wilhelm zu. Der schaute lange, sehr lange auf den Weihnachtsbaum, den das Mädchen gemalt hatte. Und dort, wo die Tropfen auf das Blatt fielen, blinkte und funkelte es plötzlich in einem überirdischen Glanz. Jürgen Rath


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