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31.12.11 / Zwei Pungelchen / Mühsam verdiente sich das ehemalige Händlerpaar seinen Lebensabend − Nie verlor es seine Würde

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 52-12 vom 31. Dezember 2011

Zwei Pungelchen
Mühsam verdiente sich das ehemalige Händlerpaar seinen Lebensabend − Nie verlor es seine Würde

Sie kamen pünktlich wie die Maurer in der ersten Woche des neuen Jahres. Schon von weitem sah man sie über die verschneite Chaussee daherkommen, beide in ihren griesen Schafspelzen, mit den Iltismützen auf dem Kopf, jeder auf einen dicken Kruckas gestützt – und man konnte wirklich nicht erkennen, wer die Macht und wer die Machtsche war. Erst beim Näherkommen entdeck-te man den Stoppelbart des Alten, der um das Kinn wucherte, da wo bei der Machtschen ein paar spärliche Borsten sprossen. Sie klopften zaghaft an die Küchentür und schoben sich fast demütig über die Schwelle, er mit einem tiefen Bück-ling, wobei er beim Aufrichten die Hand auf das Kreuz hielt, sie mit einem gichtsteifen Knicks.

„Good Dag ook on e jlöcklichet nieet Joahr! Micht et Seege bringe de ole wie de junge Lied!“ Wir kannten schon den salbadernden Singsang der beiden Alten und gnidderten still vor uns hin. Nach vielem Zureden legten sie dann ihre Schafspelze ab und setzten sich an den Küchentisch, nicht ohne dass die Machtsche vorher mit der Schürze und der Alte mit dem Schnupftuch darüber gefahren waren. Das brachte unsre Jette wie gewöhnlich in Harnisch. Wenn nicht Muttchens begütigender Blick gewesen wäre, dann hätte die Jette losgeplatzt: „Kiek moal, de feine Herrschafte aus de Pracherkoat …“

Der Macht und die Machtsche besaßen wirklich ein richtiges Pracherhäuschen weit hinter der Chaussee im Moor. Es war kaum größer „wie e Hundsbud“, wie die Jette verächtlich zu sagen pflegte, aber innen war es blitzsauber, obgleich es ständig nach einem durchdringenden Gemisch von Beifuss, Kampfer, Kautabak, Torf und Hoffmannstropfen roch. Die Machts waren früher von Markt zu Markt gezogen und hatten mit allem möglichen Kram gehandelt, bis sie – erst im Greisenalter − sesshaft wurden.

Sie waren nun beide hoch über achtzig. Aber deshalb gönnten sie sich noch keine Ruh. Sie gingen reihum durch die Dörfer und Höfe. Sie bettelten beileibe nicht, sondern boten was zum Kauf an. Er schnitzte Kochlöffel, Schüttelstöcke, Wurstpeilchen, und sie nähte aus alten Flicken irgendetwas zusammen, Topflappen, die sie „Patschakes“ nannte, oder Spreitdecken. Muttchen hätte ihre Küche schon mit einer ganzen Kompanie Patschakes ausstatten können, wenn die Alten nicht einen besondern Trick gehabt hätten. Das Spiel begann so:

Machtsche: „Eck hebb e Poar scheene Patschakes, Fruuke!“ Macht: „Wöll Se nich e nieem Schläw hebbe?“ Muttchen: „Na, was soll das denn kosten?“ Machtsche: „Wat de Fruu gifft!“ Macht: „Joa, wat se gifft! Wi fordre nuscht!“ Dann wurde verhandelt. Meistens wanderten Speck, Butter, Eier, Mehl, manchmal auch eine Wurst oder ein großes Stück Fladen in den mitgebrachten Kreppsch. Kaum hatten die Machts ihren Lohn sicher, kam der Komödie zweiter Teil.

Machtsche: „Ei, Fruuke, loate Se noch moal die Patschakes sähne! Sowat, doa ös doch e Zoahnke geräbbelt. Dä mott eck noch emoal umhäkle!“ Macht: Ei, de Schläw, na sowat! Mudderke, du häst doch bädre Ooge, häst nich gesähne, da he ganz rubbelig ös? Eck moat em noch emoal beoarbiede!“

Der Erfolg war, dass der Macht und die Machtsche ihre mitgebrachten Erzeugnisse im anderen Kreppsch versinken ließen, um sie wieder mitzunehmen. Selig zogen sie dann ab. Wie zwei große Bären stampften sie mit ihren Pelzen davon. Jeder kannte das Spiel und jeder machte es mit. Alle wussten, dass die Alten das Geschenkte bitter nötig brauchten. Aber sie respektierten ebenso, dass die Machts keine Pracher sein wollten.

Kurz vor Weihnachten verlegten sich die Machts auf Spielzeug. Er schnitzte Hampelmänner und „Zaldoatkes“, und die Machtsche nähte Flickerpuppen, scheußlich anzusehende Gebilde mit schielenden Knopfaugen und Zottelhaaren aus Werg.

Dann begannen sie ihre Weih-nachtsrunde, die sich von der üblichen dadurch unterschied, dass der eine Kreppsch größer und voller war als sonst und der andere zusehends leerer wurde. Erstens kam von den vielen guten Weihnachtssachen, freigiebiger als sonst gespendet, das zweite, weil die Machts ihre Geschenke nicht wiedernahmen – was aber keine Änderung der Machtschen Methode bedeuten sollte! Die Rückgabe oder besser die Rücknahme, hatte sich nur verschoben. Nach Neujahr erschienen die Machts nämlich wieder, um ihre Soldaten und Puppen mit der verschämten Bitte zurückzufordern, es wäre doch noch etwas zu ändern, ihnen sei das hinterher eingefallen. So geschah es auch diesmal.

Nachdem die Machts einen gesegneten Appetit bewiesen hatten, sich vom Zichorienkaffee erwärmt fühlten und sich sämtlicher Kuchenreste erbarmt hatten, nachdem er seinen bitteren und sie ihren süßen Schnaps bekommen hatten, begann die Machtsche ihr wehleidiges Spielchen:

„Fruuke, Erbarmung, eck hebb varjäte, eck hebb noch so e scheenet, blänkriget Schörtke for dat Poppke. Eck war ehr man wedder mitnähme …“ Und der Macht: „Joa, min Zaldoatke hädd goar keinen Soabel nich, eck mott em noch schnötze …“

Weiß der Kuckuck, an diesem Tag stach Muttchen der Hafer. Entweder war ihr das Geweimer zuviel geworden oder Jettes giftige Blicke hatten bei ihr gezündet. Vielleicht wollte sie die Machts auch bloß ein bisschen zargen. Jedenfalls sagte sie:

„Ach, das macht nuscht! Die Mieze hat sich so über die hübsche Puppe gefreut, und der Fritz ist ganz närrisch nach dem Soldatchen!“ Die Machts sanken sichtbar in sich zusammen. Eine Nichtrückgabe war nicht einkalkuliert. Das war noch nie und nirgends passiert. „Oaber Fruuke“, versuchte es die Alte noch einmal, „ohne dat Schörtke ös dat Poppke nicht fartig …“ „… on e Zaldoatke, wo keinen Soabel hätt, ös keiner nich…“ „Dänn is er eben bei de Pioniere!“, knurrte die Jette und klapperte mit den Kochtöpfen.

Muttchen beharrte mit erstaunlicher Freundlichkeit. „Nein, nein, meine lieben Machts, die Mühe macht euch man nicht, die Spielsachen sind wirklich sehr schön, und außerdem weiß ich im Augenblick auch gar nicht, wo sie sind.“ Ich war ganz ohne Argwohn. „Die Flickerpuppe ist unter meinem Bett“, sagte ich wichtig. „Dänn hol ehr man!“ rief die Machtsche schnell. Das ärgerte Muttchen. „Du bleibst hier. Schließlich hab ich das Sagen. Die Puppe bleibt da und der Soldat auch. Und nun Schluss!“, „Geschenkt is geschenkt!“, triumphierte die Jette.

Der alte Macht bekam einen kerzengeraden Rücken und erhob sich steif. „De Fruu deit groads so, wi wenn wi Bedrögersch send. Wi send rechtschaffne Lied!“ Die Machtsche griff nach den Pungels, die beide leer waren, und tat es ihm nach. „Wi wulld’ dat scheene Speeltiech bloßig noch scheener moake!“ Der Rest erstarb in unverständlichem Gemurmel. Dann stülpten sie ihre Mützen auf, zogen sich die Pelze an und stampften los.

Ihre Schritte knirschten voller Empörung im Schnee. Aber je weiter sie kamen, desto langsamer wurden sie. Man sah, wie die Schultern einsanken, wie der Kopf immer schwerer wurde und wie sich jeder mühsam auf seinem Kruckas stütze. Unendlich traurig schlackerten die leeren Pungelchen, einer hüben, der andere drüben.

Ich blickte Muttchen an, die ihnen vom Küchenfenster aus nachsah. Und ich gewahrte das Mitleid in ihren Augen. Irgendwie begriff ich, dass man den Lebensnerv der beiden Alten getroffen hatte. Nur die Jette brabbelte gefühlsroh: „Schoad enne goar nuscht, de Prachersch!“ „Es sind anständige Leute“, sagte meine Mutter scharf, „ich wünschte, dass sich man jeder so brav durchs Leben schlagen würde wie die beiden Alten!“

Am Nachmittag ließ Muttchen den Schlitten einspannen. Wir durften mit. Die Fahrt ging zu meinem Erstaunen ins Moor. Wir hielten vor dem Machtschen Kabuff, das fast von der Schneelast des uralten Strohdachs erdrückt wurde. Hinter den winzigen Scheiben rührte sich was.

Und dann ging die Tür auf, und sie standen auf der hohen Schwelle der Macht und die Machtsche. Dicht beieinander wie immer. „Hier ist das Spielzeug“, sagte Muttchen, „ich glaube, der Soldat ist doch mit Säbel schöner, und das Puppchen wird mit der Schürze noch hübscher aussehen. Und dies habt ihr bei uns vergessen!“ Damit legte sie ein großes Paket auf die Schwelle, aus dem der verheißungsvolle Geruch von Speck und Schinken aufstieg. Die Machtsche zitterte wie Espenlaub. Aber der Alte richtete sich auf, dass man noch die frühere stattliche Größe ahnen konnte, und antwortete feierlich:

„Scheen Dank ook, Fruuke! Oaber wat de Machtsche ös on eck, de Macht, wi hebbe ons jeseggt: de Fruu hätt recht. On eck hebb noch e Zaldoatke, oaber möt grooten Soabel, on se hätt e nieet Poppke möt e siedene Schört, wo se noch nie nich varschonke hätt, dä wöll wi nur far de Kinderkes gäwe!“

Ich sah Muttchen an. Und sie hatte auf einmal ganz nasse Augen. Die Machts kamen wieder wie gewöhnlich. Aber das alte Spiel hatte eine Änderung erfahren: Niemals forderten die Alten ihre Sachen wieder. Nur dass Muttchen sie von da ab stillschweigend und heimlich in das Pungelchen zurücklegte. Ruth Geede


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