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28.01.12 / Ein Bollwerk christlicher Nächstenliebe / Das Lebenswerk Friedrich von Bodelschwinghs, der vor 140 Jahren in Bethel seinen Dienst antrat

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 04-12 vom 28. Januar 2012

Ein Bollwerk christlicher Nächstenliebe
Das Lebenswerk Friedrich von Bodelschwinghs, der vor 140 Jahren in Bethel seinen Dienst antrat

Ganze 140 Jahre „gelebter christlicher Glauben“ – eine weltweit einmalige Erfolgsgeschichte, die aufs engste mit dem Namen Bodelschwingh verbunden ist: Am 25. Januar 1872 hatte der evangelische Pastor Friedrich von Bodelschwingh in Gadderbaum bei Bielefeld die Leitung einer kleinen, fünf Jahre zuvor gegründeten „Anstalt für Epileptische“ übernommen. Heute betreuen 15713 Beschäftigte der Bodelschwinghschen Stiftung (Stand Ende 2010) an 200 Standorten 150000 kranke, behinderte und sozial benachteiligte Menschen.

Es waren – und sind bis heute – die „Menschen, die niemand haben will“, die Vergessenen und Ausgegrenzten einer Gesellschaft der „Selbstsucht, der Habsucht, des Mammons“, wie von Bodelschwingh bitter beklagte. Diese Erkenntnis machte ihn freilich nicht zum Protagonisten sozialistischer oder gar kommunistischer Ideen. Im Gegenteil: Die Lösung der sozialen Probleme des Industriezeitalters erwartete er nicht von der Arbeiterbewegung, sondern von einem auf christlichen Werten aufbauendem patriarchalischen Gesellschaftsmodell.

Dass er sein Leben den Kranken, Behinderten und Schwachen, also den „Trunkenbolden, Landstreichern und Taugenichtsen“, wie es damals diskriminierend hieß, widmen sollte, war Friedrich von Bodelschwingh nicht in die Wiege gelegt. Am 6. März 1831 war er als sechstes Kind einer westfälischen Adelsfamilie zur Welt gekommen. Sein Vater diente zeitweise dem preußischen König als Minister. Der kleine Friedrich war Spielgefährte des Kronprinzen und späteren 99-Tage-Kaisers Friedrich III., mit dem ihn lebenslange Freundschaft verband. Zunächst studierte von Bodelschwingh Landwirtschaft und leitete ein Gut in Pommern. Dann studierte er Theologie. Als Hilfsprediger ging er nach Paris, um dort deutsche Einwanderer zu betreuen. Hier lernte er erstmals soziale Not kennen; er hatte es vor allem mit „Lumpensammlern und Gassenkehrern“ zu tun.

Die adlige Herkunft und die Nähe zum Hause Hohenzollern prägten auch sein soziales Engagement. Energisch verwahrte er sich dagegen, die Armen und Benachteiligten aufs Jenseits zu vertrösten, und verkündete: „Um reif zu werden für die himmlische Heimat und Heimweh nach dem Vaterhause droben zu haben, ist es nötig, dass man zunächst einmal ein irdisches Vaterhaus lieb gewonnen hat“. Die Chance, ein solches „irdisches Vaterhaus“ auch jenen zu schaffen, denen es von der modernen Industriegesellschaft vorenthalten wurde, sah von Bodelschwingh, als ihm die Leitung einer kleinen Einrichtung der Inneren Mission angetragen wurde. Hier wurden Epileptiker aufgenommen, betreut und behandelt, bedauernswerte Menschen also, die damals nicht als Kranke anerkannt, sondern als Besessene, Verrückte oder Trinker verachtet wurden – da wartete man nicht, bis der Arzt kommt, sondern ließ den Exorzisten kommen.

Eines der drei Häuser, die Fried-rich von Bodelschwingh vor 140 Jahren übernahm, hieß Bethel (hebräisch: Haus Gottes). Daraus wurde ein eigener Stadtteil Bielefelds, dreieinhalb Quadratkilometer groß, mit über 6000 Bewohnern, darunter 2500 Kranke, Behinderte und sozial Schwache. Solchen Menschen „Heimat und Arbeit“ zu geben, war das Bestreben von Bodelschwingh. In kleinen Wohneinheiten ließ er Betreuer und Betreute zusammen leben; Bethel sollte den Entwurzelten eine Art Ersatzfamilie sein.

Anknüpfend an Friedrich den Großen und dessen „Jeder soll nach seiner Façon selig werden“ verfügte von Bodelschwingh, jedem „nach dem Maß seiner Gaben und Kräfte eine passende Arbeit“ zu geben. So wurden in Bethel – der biblische Name wurde schon bald für die gesamte Einrichtung übernommen – die Menschen nicht mehr nur aufbewahrt. Erstmals entstand hier auf breiter Front eine Arbeitsorganisation, die sich an den Fähigkeiten der Bewohner orientierte. Es entstanden alle möglichen Handwerks- und Landwirtschaftsbetriebe.

Dabei ging es dem Pfarrer an der Spitze nicht nur darum, das Selbstwertgefühl der Kranken und Behinderten zu steigern. Für ihn zählte auch der soziale Nutzen. Die Arbeit der betreuten Menschen sollte nicht der Beschäftigungstherapie dienen, sondern dazu beitragen, die materielle Existenz der gesamten Einrichtung zu sichern.

Darüber hinaus sah von Bodelschwingh sein Lebenswerk auch als Modell einer Gesellschaft, die auf der Basis christlicher Werte und Institutionen die sozialen Auswüchse der Industrialisierung bekämpfen sollte. Der Sozialdemokratie, die im auslaufenden 19. Jahrhundert immer größere Teile der Arbeiterschaft für sich gewinnen konnte, warf er vor, den Zerfall der traditionellen christlichen Familie zu befördern.

In vielen Dingen war von Bodelschwingh seiner Zeit voraus und entwickelte Ideen, die heute noch bemerkenswert sind, zum Beispiel das in Bethel praktizierte Konzept einer Integration von Kranken und Gesunden, Behinderten und Nichtbehinderten, Arbeits- und Obdachlosen und „ganz normalen“ Familien und Handwerksbetrieben.

Eines seiner Ziele war, dass Epileptiker nicht mehr abgeschoben und diskriminiert, sondern als Kranke anerkannt werden und die ihnen gebührende medizinische und menschliche Zuwendung erhalten. Noch ist das Ziel nicht erreicht, aber dank Bethel ist die Gesellschaft auf dem richtigen Weg.

Eher daneben lag von Bodelschwingh bei einigen seiner politischen Prognosen. Für seine im Grundsatz richtige Idee, soziale Not durch eine Verbesserung der Wohnverhältnisse zu lindern, suchte er Unterstützung bei seinem Jugendfreund und schrieb Seiner Majestät Friedrich III. enthusiastisch: „Gelingt es, dass in 30 bis 40 Jahren jeder fleißige Fabrikarbeiter vor seiner eigenen Hütte sein Abendbrot essen kann, dann ist die Sozialdemokratie tot, und der Thron der Hohenzollern ist auf Jahrhunderte gesichert.“

Nun gut, die Sozialdemokratie lebt immer noch, und den Hohenzollern ist der Thron längst abhanden gekommen. Darüber hinaus aber ist Friedrich von Bodelschwinghs Lebenswerk bis heute das, was er selbst so beschrieb: „ein gewaltiges Bollwerk des Friedens“ – und der christlichen Nächstenliebe. Hans-Jürgen Mahlitz


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