© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 04-12 vom 28. Januar 2012

»Springen Sie Strick«
Charlotte nahm die Ratgeberliteratur sehr ernst − Folgen auch für den Ehemann

Alles begann damit an, dass Charlotte einen Artikel gelesen hatte, der „Schöne Schultern“ hieß. Die Verfasserin stellte darin folgende Theorie auf: Die Damenwelt müsse unbedingt Strickspringen – auch Seilspringen genannt. Sie begründete es so: Durch regelmäßiges, tägliches Strickspringen kräftige sich nicht nur der Busen, verfeinere sich nicht nur die gesamte Muskulatur des Körpers, nicht nur Rücken und Taille würden an Biegsamkeit zunehmen, sondern auch die Schultern bekämen eine klassische Schönheit. Schöne Schultern – was heißt das? Keine Ahnung, aber ich wollte es genau wissen! Ich schaue im Lexikon unter „Schulter“ nach, und was lese ich? Ich lese allerlei Medizinisches über den menschlichen Rücken und über Rückenschmerzen, nur nicht das, was ich wissen will.

Es nützt natürlich nichts, Charlotte gegenüber wegen ihrer Hüpferei, wie ich es nenne, irgendwelche Bedenken zu äußern. Sie ist fest entschlossen, künftig dreimal am Tage jeweils zehn Minuten Strick zu springen. Bei schönem Wetter natürlich auf dem Balkon. Erst später stelle ich fest, dass sie hierzu unsere Gardinenschnur benutzt.

Dass meine Frau überhaupt Strick springt, erfahre ich von Herrn Wussel, der uns gegenüber wohnt. Er berichtet mir im Supermarkt mit glänzenden Augen von Charlottes Früh-, Mittags- und Abendsport. Nun ja, dieser Herr Wussel ist einer jener brotlosen Künstler, ein Maler wahrscheinlich, die von morgens bis abends am Fenster sitzen und auf eine Inspirationen warten.

Seit einiger Zeit vermisse ich die Keramikvase von Tante Lilo, meinen Rauchverzehrer, die Shakesspeare-Büste und einen goldgerahmten Wandspruch Wilhelm Buschs. „Humor ist, wenn man trotzdem lacht.“ Eine Folge, wenn Charlotte bei schlechtem Wetter in der Wohnung Strick springt. Im übrigen hat sich an den Schultern meiner Frau so gut wie nichts geändert – trotz dieses ununterbrochenen Strickspringens. Sie sind auch weiterhin unklassisch. Und schön waren sie schon vorher. Unklassisch schön. Wie immer man es nennen will.

Nach wie vor frage ich mich: Warum nur möchte Charlotte ihre schönen Schultern verändern? Warum will sie unbedingt, dass ihre Schultern eine klassische Schönheit bekommen? Was ist überhaupt Klassik?

Noch einmal greife ich zum Lexikon. Ich werde nachsehen, was unter Klassik steht. Da steht: „Klassik − Zeitalter hoher bildender Kunst, Literatur oder Musik. Bei der Schätzung der römischen Bürger nach ihrem Vermögen hießen die Bürger der obersten Vermögensklasse Klassiker. Im 2. Jahrhundert nach Christus verwandte man diese Bezeichnung für erstklassige Schriftsteller …“

Bei Klassik und Schriftsteller fällt mir ein, dass ich langsam einen Bauch bekomme – vom vielen Sitzen wahrscheinlich. Ich sollte im Stehen schreiben. An einem Stehpult! Wie frühere klassische Schriftsteller auch.

Ich lege Band K beiseite, schlage noch einmal Band Sch auf. Die Schulter hatte ich schon, diesmal will ich wissen, was unter Schönheit steht. Ich lese einige Zeilen über „Schönheit und Grenzen der klassischen Form“ und über „antike Proportionsverhältnisse“ und schlage auch diesen Band zu. Nein, so komme ich nicht weiter!

Ich muss mich wohl mit der Tatsache abfinden, dass meine schönschultrige Frau nur Strick springt, um noch schönere Schultern zu bekommen. Und das alles tut sie, um mir zu gefallen. Und nicht etwa dem Herrn Wussel von gegenüber.

Seit letztem Sonntag springe ich übrigens selbst! Ich las nämlich einen Artikel, der überschrieben war mit: „Werden Sie dick? – Springen Sie Strick!“ Die Gründe, dass nun auch ich springe, sind die gleichen wie bei meiner Frau. Sie will mir gefallen – ich will ihr gefallen! Willi Wegner