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25.02.12 / Für Honecker wurde das Recht gebeugt / Der Berliner Staatsanwalt Bernhard Jahntz über Wiedergutmachung und die Grenzen der Justiz

© Preußische Allgemeine Zeitung / Folge 08-12 vom 25. Februar 2012

Für Honecker wurde das Recht gebeugt
Der Berliner Staatsanwalt Bernhard Jahntz über Wiedergutmachung und die Grenzen der Justiz

Bernhard Jahntz war von 1979 bis 1986 Dezernent für die Verfolgung von NS-Unrecht im Besonderen durch die Justiz bei der Staatsanwaltschaft beim Landgericht Berlin. Als Staatsanwalt war er in die Anklagen gegen Egon Krenz und andere DDR-Spitzenfunktionäre involviert. Mit dem 1945 geborenen Berliner sprach der PAZ-Mitarbeiter Hans Lody über die juristische Aufarbeitung der beiden deutschen Diktaturen.

PAZ: Gibt es Unterschiede zwischen der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit zu derjenigen der NS-Vergangenheit?

Jahntz: Die strafrechtliche Ahndung der NS-Verbrechen konnte zunächst aufgrund alliierter Vorbehalte nicht alsbald nach dem Ende des NS-Regimes beginnen. Sie erfolgte bis 1958, als die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg errichtet wurde, sodann unsystematisch und nicht umfassend. Das Verfolgungsbedürfnis der Gesellschaft, das sich auch in der Justizpolitik widerspiegelte, war schließlich begrenzt, sicherlich auch als Folge der Anfang der 1950er Jahre einsetzenden umfassenden Amnestien für die noch von den Alliierten in Nürnberg und in den Folgeprozessen verurteilten Hauptkriegsverbrecher.

Demgegenüber standen die Arbeitsgruppe Regierungskriminalität (später: Staatsanwaltschaft II Berlin) sowie die Schwerpunkt-Staatsanwaltschaften der neuen Bundesländer bereits ab 3. Ok-tober 1990, also unmittelbar ab Ende der zweiten deutschen Diktatur, zur Strafverfolgung bereit. Deshalb auch konnte diese strafrechtliche Aufarbeitung im Wesentlichen bereits 15 Jahre später als abgeschlossen angesehen werden, während die Zentralstelle Ludwigsburg auch heute immer noch nicht „arbeitslos“ geworden ist.

PAZ: Hat man mit den gleichen Maßstäben gemessen?

Jahntz: 1986 wurde in Berlin der NS-Verbrecher Otto Heidemann, Funktionshäftling (Kapo) im KZ Mauthausen-Gusen, wegen Mordes zu zehn Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Der Angeklagte, schwer herzkrank, wurde zur Urteilsverkündung auf einer Krankentrage aus der JVA Moabit vor die 27. große Strafkammer in den Saal 700 des Landgerichts Berlin getragen. Ein Sachverständiger bescheinigte ihm auch da noch Verhandlungsfähigkeit. Die Menschenwürde Heidemanns sah niemand angetastet. Er starb wenige Tage nach der Urteilsverkündung in der JVA.

Nur sechs Jahre später bescheinigte vor derselben (inzwischen anders besetzten) 27. großen Strafkammer des Landgerichts Berlin im selben Saal 700 des Kriminalgerichts Moabit derselbe Sachverständige dem krebskranken, aber immerhin lauf- und sitzfähigen Angeklagten Honecker Verhandlungsunfähigkeit, und alle Welt, angeführt von seinen Verteidigern, thematisierte die durch die beabsichtigte Fortführung des Verfahrens gegen ihn angeblich begangene Verletzung seiner Menschenwürde ...

Honecker starb in Freiheit in Chile im Mai 1994, 16 Monate nach seinem Ausscheiden aus dem gegen ihn geführten Prozess und acht Monate nach Urteilsverkündung gegen seine früheren Mitangeklagten Heinz Keßler, Fritz Streletz und andere. Ich war in beiden Verfahren Sitzungsvertreter der Berliner Staatsanwaltschaft.

PAZ: Die Bewältigung des Systemunrechts von Unrechtsstaaten mit Mitteln des Rechtsstaats ist schwierig. Wie denken Sie rückblickend über die Mauerschützenprozesse? Wurden die „Kleinen“ bestraft und die „Großen“ laufengelassen?

Jahntz: Im Gegensatz zur NS-Unrechts-Bewältigung standen die „Großen“ der Justiz zur Verfügung. Verurteilt wurden nicht nur Grenzposten, Vergatterer, sondern zum Beispiel auch Kompaniechefs, Regimentskommandeure, der Chef der Grenztruppen, der Minister für Nationale Verteidigung, Mitglieder des Nationalen Verteidigungsrates (NVR) und des Politbüros.

Es wurde also, und das ist auch ein legitimer und wichtiger Strafzweck, deutlich gemacht, dass Unrecht, auch wenn es von Politikern begangen wurde, als solches benannt und geahndet wurde; das kann zur Stärkung des Vertrauens der rechtstreu gebliebenen Masse der DDR-Bevölkerung in die Gerechtigkeit beitragen.

Andererseits ist und bleibt es schwierig, Systemunrecht, also von den Stützen des (Unrechts-)Systems begangenes Unrecht, mit den Mitteln des Individual-Strafrechts verfolgen zu müssen: Die Tatsache der Zugehörigkeit zu einem diktatorischen Gremium allein konnte und durfte nicht Grundlage eines Schuldspruches sein. Vielmehr musste jedem Angeklagten individuelle Schuld, begangen durch strafrechtlich relevantes Tun oder Unterlassen, nachgewiesen werden. Das ist der Strafjustiz jedoch betreffend alle politisch-militärischen Befehlsebenen gelungen, wenn auch hinsichtlich der Strafmaße nur mit Einschränkungen.

PAZ: Was waren die größten Fehler bei der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit?

Jahntz: Die strafrechtliche Aufarbeitung der DDR-Gewaltakte an der innerdeutschen Grenze halte ich – mit den hier erörterten Einschränkungen – für gelungen, anders als die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (BGH) zum DDR-Justizunrecht. Die Strafjustiz hatte allerdings darunter zu leiden, dass sie vieles, was von ihr erwartet wurde, nicht leisten konnte und durfte: Nicht jede menschenverachtende Einwirkung etwa des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) auf Lebensläufe von DDR-Bürgern war und ist strafrechtlich erfassbar. Die Strafjustiz konnte und durfte keine Wiedergutmachungs-Politik leisten, sondern „nur“ individuelle strafrechtliche Schuld feststellen. Die Politik hat, so scheint es, die auf die Strafjustiz fokussierte Erwartungshaltung des Publikums gerne hingenommen, um von ihren eigenen Defiziten bei der außer-strafrechtlichen Vergangenheitsbewältigung ablenken zu können.

PAZ: Wäre es 1990 besser gewesen, die Erben der SED, die sich heute „Die Linke“ nennen, zu verbieten?

Jahntz: Ich bin Staatsanwalt, nicht Politiker – nur soviel: Man stelle sich vor, die NSDAP wäre nach dem 8. Mai 1945 auf die Idee gekommen, als „Partei des demokratischen Nationalsozialismus“ weiterexistieren zu wollen ...

PAZ: Teilen Sie die Auffassung, Honecker und Krenz seien „zu billig“ davongekommen?

Jahntz: Honecker ist der Fortsetzung und Beendigung des Verfahrens gegen ihn durch Verurteilung bewusst entzogen worden. Durch vorsätzliche Rechtsbeugung, begangen vom Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin unter Vorsitz des CDU-Politikers Dr. Klaus Finkelnburg. Dies war nichts anderes als politische Justiz, denn Finkelnburg hatte bereits Monate, bevor Honecker seine Verfassungsbeschwerde erhob, sich bereits publizistisch festgelegt, dass Strafverfahren wie das gegen Honecker falsch und deshalb nicht durchzuführen beziehungsweise gegebenenfalls zu beenden seien.

Soweit Verurteilungen erfolgten, blieben die gegen die Befehlsgeber verhängten Strafmaße, nicht nur gegen Krenz, insgesamt unbefriedigend: Ursprünglich war der Grenzposten, der das letzte Maueropfer, Chris Gueffroy, erschoss, zu drei Jahren und sechs Monaten Freiheitsstrafe verurteilt worden; ein für die Auslöschung eines hoffnungsvollen jungen Menschenlebens sicher keine zu harte Strafe. Der BGH kassierte gleichwohl dieses Strafmaß in der Revision insbesondere mit dem Bemerken, gegen diesen Angeklagten, der „in der militärischen Hierarchie ganz unten“ stand, dränge es zur Verhängung einer milden Bewährungsstrafe (also maximal zwei Jahre Freiheitsstrafe), weil „Funktionsträger, die über einen größeren Überblick und über eine differenziertere Ausbildung verfügten, bisher nicht zur Verantwortung gezogen worden“ seien. Dies verkündete der BGH am 25. März 1993.

An diesem Tage war aber bereits 30. Verhandlungstag im sogenannten NVR-Verfahren, in dem sich neben Honecker Verteidigungsminister Keßler und andere Funktionsträger mit dem größten Überblick und differenziertester Ausbildung in der DDR für die Mauertoten zu verantworten hatten. Das wussten die BGH-Richter ganz genau, und das drängt deshalb zu dem Verdacht, sie wollten – wohl wissend, dass natürlich die Strafmaße gegen die Höher- und Höchst-Verantwortlichen deutlich über denen für die einfachen Grenzposten liegen müssten und würden – zu harter Bestrafung der realsozialistischen Machthaber bereits durch „Drücken“ der Strafmaße für die Mauerschützen vorbeugen. Auch das könnte man Rechtsbeugung nennen ...

Und tatsächlich: Als dann die Hoch- und Höchstverantwortlichen, die Mitglieder des NVR Keßler, Streletz und andere, und des Politbüros, Egon Krenz, Günter Schabowski und andere, vor dem BGH standen, drängte diesen nichts zu harten Strafen: Sieben Jahre sechs Monate für Keßler (mein Antrag: zwölf Jahre) oder sechs Jahre sechs Monate (mein Antrag: elf Jahre) für Krenz einerseits, gegenüber zwei Jahren Freiheitsstrafe für den Grenzposten, der Chris Gueffroy erschoss, andererseits, das sind keine gerechten Strafmaß-Relationen!


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